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ZUR GESCHICHTE DER INTROSPEKTION

Gerhard Kleining

Aufstieg und Fall der Methode der Introspektion lassen sich grob in aufeinander folgende, wenn auch sich überlappende Perioden gliedern.

Vorgeschichte: Selbstbeobachtung als Zugang zur inneren Erfahrung

Selbstbeobachtung gilt der frühen, reflexiven Psychologie als höchste Stufe der Beobachtung. Mit ihr "beginnt die Wahrheit der Menschenkenntnis" (Carus 1808, 59). Beim Übergang zur Erfahrungswissenschaft sieht sich die Psychologie mit der Leib-Seele-Dichotomie konfrontiert und folglich mit dem Methodenproblem. Die Annahme psycho-physischer Parallelität erlaubt die direkte Anwendung "objektiver", quantifizierender Methoden auf die Psyche. Die sich ausgliedernden Sozial- und "Geistes-" Wissenschaften fragen dagegen nach angemesseneren Methoden. Dilthey empfahl mit der Hermeneutik den radikalen Bruch. Die Psychologie spaltete sich in zwei: eine metaphysische "Wissenschaft von der Seele" und eine empirische "Wissenschaft der inneren Erfahrung". Sie verwendet die "Methode der reinen Selbstbeobachtung" unter Annahme der Differenz physischer und psychischer Erfahrungsinhalte (Wundt 1907, 1, 10).

Die Klassiker suchen die Einheit der Methoden. Wundt und Brentano

Wundt verbindet in seiner "Physiologischen Psychologie" (1873, 1874) Körper und Geist, inneres und äußeres Leben in einer Wechselbeziehung. Psychologie stehe zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Die Methodenfrage stellt sich neu.

Gegen die "gewöhnliche Selbstbeobachtung" verlangt er die Einheit der Untersuchung von Innen und Außen, von psychologischen und naturwissenschaftlichen Methoden. Sie sind "verschiedene Betrachtungsweisen der an sich einheitlichen Erfahrung"­ (1907, 11). Die Lösung ist die Übernahme des Experiments in die empirische Psychologie. ­Experimente können Eintritt und Verlauf einer Erscheinung willkürlich bestimmen, sie isolieren und einer exakten Beobachtung zugänglich machen. Sie kontrollieren den unerwünschten Einfluss der Aufmerksamkeit. "Der entscheidende Wert dieses Hilfsmittels (des Experiments) liegt darin, daß es eine Selbstbeobachtung im wissenschaftlichen Sinne des Wortes überhaupt erst möglich macht" (1873, 4). Experimente sollen Empfindungen, Vorstellungen, Gefühle, Willensvorgänge "in der für eine exakten Untersuchung geeignetsten Beschaffenheit herstellen" (1907, 27, 28). Die Anwendung des Experiments auf die Psyche war bekanntlich außerordentlich bedeutsam, weil Experimente prinzipiell realitätsoffen sind.

Dagegen findet Brentano die Einheit der Methoden in seiner "Psychologie vom empirischen Standpunkt" von 1874 durch Radikalisierung der Subjektivität. Die Psychologie hat drei Erfahrungsgrundlagen: (1) die "innere Wahrnehmung", die nie "innere Beobachtung" (mit Hilfe der Aufmerksamkeit) werden kann, (2) das Betrachten unserer früheren inneren Erlebnisse im Gedächtnis und (3) die Äußerungen des psychischen Lebens anderer. Die innere Wahrnehmung ist unentbehrliche Vorbedingung für die beiden anderen Erfahrungsweisen. "Auf der inneren Wahrnehmung ... erhebt sich recht eigentlich der Bau dieser Wissenschaft wie auf seiner Grundlage" (1874, 61). Die im Gedächtnis erhaltenen Erfahrungen ("Retrospektion") ergänzen die Selbstwahrnehmung, wie auch die Fremderfahrungen. Diese Position war der Ausgangspunkt für die glänzende Entwicklung der Phänomenologie der Folgezeit.

Beide nahezu gleichzeitig veröffentlichte Werke sind bewußtseins­psychologisch,erfahrungsorientiert ("empirisch"), versuchen die Einheit Innen/Außen herzustellen und die Einheit der Methoden. Jedoch gehen sie verschiedene Wege. Die Grundmuster ihrer Lösungen sind bis heute bedeutsam.

Introspektion gegen Behaviorismus: die Verkürzung der Problematik

Die Protagonisten sind Edward B. Titchener und John B. Watson. Titchener (1912): "Es wird (hiermit) behauptet, daß Introspektion die eigentliche psychologische Methode ist (the one distinctively psychological method) und daß alle objektiven Daten, damit sie psychologisch werden, im Licht der Introspektion interpretiert werden müssen" (433). " .. ich bin nicht sicher, daß irgendein psychologisches Faktum durch objektive Methoden als Faktum identifiziert werden kann" (431). "Trotz aller Angriffe auf sie wird (hiermit) behauptet, daß die große Mehrheit der gegenwärtigen Psychologen sie als das wichtigste Verfahren psychologischer Erkenntnis ansieht" (433). Er zitiert 27 führen­den Psychologen und Philosophen von G. E. Müller, Lipps, Wundt, Stumpf, Münsterberg bis zu James und Binet.

Watson weist Introspektion pauschal zurück (1913): "Psychologie aus Sicht des Behavioristen ist ein rein objektiver, experimenteller Zweig der Naturwissenschaft. Ihr theoretisches Ziel ist die Vorhersage und die Kontrolle des Verhaltens. Introspektion ist kein essentieller Teil ihrer Methoden, noch ist der wissenschafltiche Wert ihrer Daten abhängig davon, wie gut sie mit Begriffen des Bewusstseins interpretiert werden können. Der Behaviorist anerkennt keine Trennungslinie ... zwischen Mensch und Tier, (beides) sind nur Teile des gesamten Forschungsfeldes". Die Kontrahenten reduzieren ihre jeweiligen Methoden auf den Dualismus "subjektiv" vs "objektiv" oder Introspektion vs Verhaltensbeobachtung. Der Anspruch der Klassiker ist aufgegeben. Bekanntlich hat sich der Behaviorismus gegen die Introspektion durchgesetzt, von den machtpolitischen Verhältnissen kräftig unterstützt (Balmer 1982, 99).

Die integrativen Lösungen I: Würzburger Denkpsychologie, Gestaltpsychologie

Die Würzburger Schule hat die Wundtschen Anweisungen zur Verwendung von Experimenten als zu restriktiv angesehenen. Unter der Leitung von Külpe (1894 bis 1909 in Würzburg) wurde von Marbe, Karl Bühler, Ach, Selz u.a. die "systematische Selbstbeobachtung" angewandt. Sie untersucht komplexe psychologische Phänomene, wie Denken, Wollen, Urteilen, verwendet ingeniöse, vielfach variierte Versuche, Lautes Denken, vollständige und unbefangene Mitteilung unmittelbar nach Ablauf. Eine Reihe bedeutsamer Entdekungen gelangen (z.B. das "unanschauliche Denken", die "determinierenden Tendenzen", das "Aha-Erlebnis"). "Selbstbeobachtung ist die Grundmethode der Psychologie. Alle Fortschritte derselben beruhen hauptsächlich auf der Anwendung dieser Methode" (Külpe 1922, 46, siehe auch Marbe 1901, später Ach 1921 u.a.).

Dagegen hat die Gestaltpsychologie die Wundtsche Elementenpsychologie durch "Ganzheit" und "Gestalten" reformiert. Koffka beschreibt "reliable introspection" (1925): wir können, unter bestimmten Bedingungen, aus dem Teil das Ganze erschließen (160). Die Forschung nutzt Selbstbeobachtung bei Wahrnehmungsexperimenten (Wertheimer, Phi-Phänomen), wie früher bei optischen Täuschungen und studiert Problemlösungsverfahren (Duncker 1935, Wertheimer 1943). Die Methoden sind die systematische Beobachtung, explorative und Gedankenexperimente. Durch Nazigewalt wurde auch diese höchst lebendige Entwicklung zerstört.

Beide Richtungen haben gezeigt, dass Öffnung und Flexibilisierung der Verfahren zu Wirklichkeitsnähe führt und zu Erkenntnissen, die verengten Verfahren nicht zugänglich sind.

Die integrativen Lösungen II: Phänomenologie, Psychoanalyse

Brentanos Grundlegung einer auf der Selbstwahrnehmung beruhenden Psychologie hat sich in Husserls "Epoché" entfaltet, die phänomenologische Reduktion, intuitive Evidenz und Wesensschau in einer umfassenden und einheitlichen philosophische Methode verbindet, die auch empirisch ergiebig war. Genannt seien Forschungen von Alfred Schütz, der phänomenologischen Psychologie und der amerikanische Ethnomethodologie, als Beispiel die Konversationsanalysen von Sacks (1992).

Die Freudsche und spätere Psychoanalyse hat die Bewusstseinspsychologie überwunden durch Entdeckung der Zugänglichkeit des Vor- und Unbewußten, dessen Studium und Veränderung durch die psychoanalytische Methode (Freud 1938/1939, 99), entwickelt aus der Selbstanalyse der Traumdeutung. Sie ist eine Anweisung zur regelhaften Introspektion, die neue Erkenntnisse erschließt. Analytische Introspektion postuliert die Einheit von Psyche und Kultur (Freud 1930).

Selbstbeobachtung in Krisen - die Krise der Selbstbeobachtung

Politische Bedingungen und Wissenschaftsideologien haben die Weiterentwicklung der Introspektion über die integrativen Ansätze hinaus schwer behindert. Seit den dreißiger Jahren nimmt die Bedeutung des Verfahrens ab, seit den fünfziger ist es in der akademischen Psychologie praktisch verschwunden. Gleichwohl lebte es nicht nur in der Dichtung (später Rilke: Innen/Außen, James Joyce: innerer Dialog, Marcel Proust: Retrospektion) sondern ironischerweise als Überlebenshilfe verfolgter Wissenschaftler in den KZs (Massing 1935, Bondy 1943, Bettelheim 1943). "Vernichtende" Anklagen werden vorgebracht (Traxel 1974, Nisbett, Wilson 1977, Huber 1984), in der Tradition von Maudsley, der bereits 1867 "der introspektiven Psychologie einen Gnadenstoß" versetzt habe (Brozek, Diamond, 1982, 100). Nachrufe erscheinen, die Introspektion habe sich aufgelöst (Boring 1953), sei verschwunden (Lyons 1986), an irrtionalen gesellschaftlichen Bedingungen gescheitert (Danziger 1980), allenfalls begrenzt aussagefähig (Lieberman 1979).

Gibt es eine neue wissenschaftsideologische Situation ?

Die Weiterentwicklung der Methode ist nötig und auch möglich. Sie kann sich auf die "integrativ" genannten Ansätze stützen. In den kritischen neueren Beiträgen werden sie kaum reflektiert, die eher Skinner als die Würzburger oder Freud oder Brentano zitieren. Die Fragen scheinen relevant, ob Intropektion als wissenschaftliches Verfahren überhaupt möglich oder nötig sei oder über einen begrenzten Nutzen hinaus Bedeutung erlangen könne (Lieberman 1979).

Die Akzeptanz der Methode hängt ebenfalls von der Wissenschaftsideologie und diese wieder von den jeweiligen Herrschaftsverhältnissen ab. In der Psychologie zeigt sich derzeit eine gewisse Offenheit gegenüber nicht-behavioristischen Verfahren und eine Tendenz zu erneuten Akzeptanz des Subjektes, die Cognitive Sciences werden interessanter; in der Soziologie werden mit der Wiederaufnahme der qualitativen Methoden die scientistischen und positivistischen Positionen hinterfragt. Dies sollten gute Voraussetzungen sein für eine Erneuerung der Methode.

Literatur

Ach, Narziß (1921): Über die Begriffsbildung. Eine experimentelle Untersuchung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Nachdruck 1971

Balmer, Heinrich (1982): Objektive Psychologie - Verstehende Psychologie. Perspektiven einer Kontroverse. In: Balmer, H. (Hg.). Geschichte der Psychologie, 1, Weinheim: Beltz

Brentano, Franz (1874): Psychologie vom empirischen Standpunkte, 1. Leipzig. Kraus, O. (Hg.), Hamburg: Meiner. Nachdruck 1973

Bettelheim, Bruno (1943): Individual and Mass Behavior in Extreme Situations, in: Journal of Ab­nor­mal and Social Psychology, 38, 417-452.

Bondy, Curt (1943): Problems of Internment Camps. In: Journal of Abnormal and Social Psy­cho­lo­gy, 38, 453-475

Boring, Edwin G. (1953): A history of Introspektion. In: Psychological Bulletin, 50, 169-189

Brozek, Josef, Diamond, Solomon (1982): Die Ursprünge der objektiven Psychologie. In: Bal­mer, H. (Hg.). Geschichte der Psychologie, 2, 37-135. Weinheim: Beltz

Carus, Friedrich, August (1808): Psychologie, Band 1. Kummer: Leipzig

Danziger, Kurt (1980): The History of Introspection reconsidered. Journal of History of the Be­ha­viou­ral Sciences 16, 241-262.

Duncker, Karl (1935): Zur Psychologie des produktiven Denkens, Berlin: Springer. Nachdruck 1974

Freud, Sigmund (1930): Das Unbehagen in der Kultur. In: Gesammelte Werke, 14, 419-506. Ima­go: London

Freud, Sigmund (1938/1939): Abriss der Psychoanalyse. In: Gesammelte Werke, 17, 63-138. Imago: Lon­don

Huber, Oswald (1984): Beobachtung. In: Roth, E. (Hg.). Sozialwissenschaftliche Methoden. Stichworte Selbstbeobachtung (125/126), Gleichzeitiges Lautes Denken (129). München: Oldenbourg

Koffka, Kurt (1925): Introspection and the Method of Psychology. In: British Journal of Psychology, 15, 149-161

Külpe, Oswald (1922): Vorlesun­gen über Psychologie, Bühler, K. (Hg.), 2. Auflage, Leip­zig: Hirzel

Lieberman, David A. (1979): Behaviorism and the Mind: a (limited) Call for a Return to Intro­spec­tion. In: American Psychologist 34, 319-333

Lyons, William (1986): The Disappearance of Introspection. Cambridge/Mass.: MIT

Marbe, Karl (1901): Experimentell-psychologische Untersuchungen über das Urteil. Eine Einleitung in die Logik. Leipzig: Engelmann

Massing, Paul ("Karl Billinger")(1935): Schutzhäftling Nr. 880. Aus einem deutschen Konzentrationslager. Roman. München: Rogner & Bernhard. Neuauflage 1978

Maudsley, Henry (1867): The Physiology and Pathology of the Mind. New York: Appleton. Deutsch Würzburg 1870

Nisbett, Richard E., Wilson, Timothy D. (1977): Telling more than we know. Verbal reports on mental processes. Psychological Review 84, 231-259

Sacks, Harvey (1992): Lectures on Conversation. Jefferson, J.(Hg.), Blackwell: Oxford UK

Titchener, Edward B. (1912): Prolegomena to a Study of Introspection, in: American Journal of Psy­cho­lo­gy, 23, 427-448

Traxel, Werner (1974): Grundlagen und Methoden der Psychologie. Eine Einführung in die psychologische Forschung. Zweite Auflage, Stuttgart: Huber (1974)

Watson, John B. (1913): Psychology as the Behaviorist views it, in: Psychological Review, Band 20, 158-177

Wertheimer, Max (1945): Produktives Denken, Frankfurt/Main: Kramer. Zweite Auflage 1964

Wundt, Wilhelm (1873, 1874): Grundzüge der physiologischen Psychologie. Engelmann: Leipzig

Wundt, Wilhelm (1907): Grundriss der Psychologie. Leipzig: Engelmann. Achte Auflage, zuerst 1896

 

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