Zurück

Dialogische Introspektion in der qualitativen Medienpsychologie

Thomas Burkart
 

Gegenstand des Beitrags ist der Einsatz der Dialogischen Introspektion in der qualitativen Medienpsychologie. Einleitend wird die Methode skizziert, die sich sowohl für Rezeptionsuntersuchungen als auch für Wirkungsstudien einsetzen läßt. Es folgt eine Übersicht über unsere bisherigen medienpsychologischen Untersuchungen, um dann einige Ergebnisse zu skizzieren und abschließend die Möglichkeiten und Grenzen der Methode zusammenzufassen.


1. Die Dialogische Introspektion

Die Introspektion war nach der Konstitutierung der Psychologie als eigenständige Wissenschaft zunächst eine ihrer Hauptmethoden. Sie wurde mit großen Gewinn in der Würzburger Schule eingesetzt, ehe sie vom Behaviorismus als unwissenschaftlich diskreditiert nahezu völlig verschwunden ist.
Im Rahmen einer Forschungswerkstatt an der Universität Hamburg – initiert von Gerhard Kleining und Harald Witt – arbeiten wir seit ca. 10 Jahren an einer Wieder-belebung der Introspektion (vgl. Qualitativ-heuristische Sozialforschung Hamburg. Introspektion, k.D.). Ergebnis dieser Arbeit ist die Dialogische Introspektion. Sie verbessert die oft spontane und unsystematische Alltagsintrospektion durch ein systematisches, regelbasiertes Vorgehen und ist folgendermaßen gekennzeichnet:

  • Die Methode zielt auf eine Registrierung des Erlebens, verstanden als die bewußt erlebten aktuellen inneren Prozesse.
  • Die Methode nutzt eine Gruppensituation, um die individuelle Introspektion zu erleichtern, die wegen der Flüchtigkeit und Vielfalt der inneren Prozesse im Alltag oft fragmentarisch bleibt und sich außerdem mit Bewertungen und Reflexionen mischt.
    Ca. 4 bis 12 Teilnehmer (Tn) beschäftigen sich unter Anleitung eines Versuchs-leiters (Vl), der den Gruppenprozess steuert, mit einem Gegenstand. Bei medienpsychologischen Untersuchungen ist dies z.B. das Erleben eines Filmes, den die Tn rezipieren. Dabei ist ihre Aufgabe, ihr eigenes Erleben mit folgender Instruktion aufmerksam zu registrieren:
  • "Seien Sie offen und aufmerksam für alles, was während des Films in Ihnen vorgeht, Ihre Ge-danken, Phantasien und Erinnerungen, Ihre Empfindungen und Gefühle. Vermeiden Sie es, Ihre Selbstbeobachtungen zu bewerten."

    Als Erleichterung für das Erinnern der vielfältigen inneren Prozesse, protokollieren die Tn bereits während der Rezeption Stichpunkte ihres Erlebens. Nach Abschluss der Filmrezeption fertigen sie ein ausführliches Protokoll ihrer Selbstbeobachtungen an.

  • Anschließend berichten die Tn reihum ohne Unterbrechung von ihrer Introspektion, wobei folgende Regeln gelten:
    - Die Tn können das von ihrem Erleben mitteilen, was sie möchten, im Extremfall auch gar nichts.
    - Nachfragen, Kommentare oder Wertungen sind unerwünscht.
    - Diskussionen sollen unterbleiben.
    Diese Regeln, auf deren Einhaltung der Vl achtet, sollen eine Mitteilung des Einzelnen in der Gruppe erleichtern und unerwünschte gruppendynamische Prozesse verhindern, die sich leicht einstellen, wenn sich Gruppenmitglieder der Kritik, der Bewertung ausgesetzt sehen. Außerdem dienen sie zur Hierarchieabschwächung, da jeder Tn den gleichen Raum für Mitteilungen beanspruchen kann, und damit einer Reduzierung von Beeinflussungsprozessen.
     
  • Abschließend sind in einer zweiten Runde Ergänzungen zum eigenen Introspektionsbericht möglich. Dadurch dass die Tn voneinander hören, wie sie das gleiche Ereignis erlebt haben, werden sie angeregt, erneut über ihre Erfahrung nachzudenken und ihren ersten Introspektionsbericht zu prüfen. Nicht selten erinnern sie Elemente ihres Erlebens, die sie vergessen hatten oder sie werden durch die Berichte der anderen ermutigt, Details nachzuliefern, die sie zunächst für unbedeutend gehalten hatten.
     
  • Die auf Tonband aufgezeichneten Introspektionsberichte in der Gruppe werden transkribiert und dann in Einzelarbeit analysiert.

Die Methode ist in der qualitativ heuristischen Methodologie Gerhard Kleinings (Kleining, 1982, 1994, 1995; Qualitativ-heuristische Psychologie und Sozialforschung Hamburg, k.D.; Kleining & Witt, 2000) verankert, die durch vier allgemeine Regeln gekennzeichnet ist:

  • Offenheit des Forschers mit der Bereitschaft sein Vorverständnis zu verändern.
     
  • Offenheit des Forschungsgegenstandes zu Beginn der Forschung, da Neues entdeckt werden soll.
     
  • Maximale strukturelle Variation der Perspektiven auf den Gegenstand mit einer Variation der Forschungsmethoden, der Forschungsteilnehmern und wesentlicher Aspekte des Gegenstands.
     
  • Analyse der Daten auf Gemeinsamkeiten, um eine Struktur zu erkennen, die alle Befunde integriert.

Der Forschungsprozess wird durch Fragen vorangetrieben, die die Forschungsperson an den Gegenstand stellt, auf die er mit den Daten antwortet, was zu neuen Fragen führt (Dialogprinzip). Basismethoden sind Beobachtung und Experiment. Die für sie kennzeichnenden aktiven bzw. rezeptiven Modi der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand finden sich auch bei Introspektion, die sowohl eine rezeptive Erlebensbeobachtung als auch eine aktive Auseinandersetzung mit dem Erleben beinhalten kann, wenn sich die Forschungsperson z.B. fragt, ob das Protokoll ihres Erlebens alle wesentlichen Elemente enthält.
Kennzeichnend und namensgebend für die Methode sind die durch sie angestoßenen dialogischen Prozesse. Durch die Gruppensituation wird eine Verschränkung von Selbstdialogen und sozialen Dialogen hergestellt. Einerseits ist der Einzelne im Selbstdialog mit seinem beobachteten Erleben und dem Versuch, es angemessen zu dokumentieren, beschäftigt. Jeder Tn kann sich fragen, ob die Darstellung seiner Selbstbeobachtungen vollständig und zutreffend ist und sie, wenn nötig, ergänzen, präzisieren. Anderseits gibt es soziale Dialoge, in denen das beobachtete Erleben den anderen in Gruppe mitgeteilt wird. In der Verschränkung von Selbst- und sozialem Dialog kontrastiert der Introspektionsbericht der anderen mit der eigenen Erinnerung, und kann sie vervollständigen, akzentuieren oder differenzieren. Die einzelnen Tn können sich durch die Berichte der anderen Gruppenmitglieder an Aspekte ihres Erlebens erinnern, die sie vergessen oder für unwichtig oder zu schwierig für eine sprachliche Darstellung gehalten hatten. Sie können auch anregt werden, ihr Erleben mit einer weiteren Perspektive zu betrachten und sich Auslöser oder Hintergründe vergegenwärtigen.
Im Unterschied zur in der qualitativen Forschung weitverbreiteten Gruppendiskussion (Focus Group), bei der die Tn über einen gemeinsamen, vorgegebenen Gegenstand ihre Erfahrungen und Meinungen austauschen, sind – wie bereits erwähnt – Diskussionen in der Dialogischen Introspektion unerwünscht. Diskussionen können leicht dazu führen, dass der Einzelne nicht mehr offen von sich berichtet, sondern sich an der Gruppenmeinung orientiert, um sich nicht der Kritik auszusetzen. Möglich ist auch, dass ein Gruppenmitglied sich gezielt in Opposition zur Gruppe begibt, um zu provozieren. Während die Focus Group wegen ihres Diskussionsmerkmals individuelle Erfahrungen und Haltungen eher unterdrückt und stattdessen dazu tendiert, angeglichene Mitteilungen (soziale Stereotypien) zu erfassen, zielen die Regeln der Dialogischen Introspektion darauf ab, die Mitteilung des individuellen Erlebens in der Gruppe zu erleichtern. Gleichzeitig profitiert die individuelle Introspektion auch durch die Gruppensituation, wobei die Gruppenrisiken (unerwünschte gruppendynamische Prozesse und Konformität) gering gehalten werden.


2. Medienpsychologische Untersuchungen

Wir haben die Methode in verschiedenen Feldern, darunter auch der Rezeption und Interaktion mit Medien erprobt. Zielsetzung waren nicht medienpsychologische Fragestellungen, sondern die Methode zu entwickeln, ihre Möglichkeiten und Grenzen zu untersuchen. Neben zwei Voruntersuchungen (mit der Rezeption einer Nachrichtensendung und eines Zeichentrickfragments) wurden folgende Untersuchungen durchgeführt (vgl. auch Kleining & Burkart, 2001):

  • Rezeption eines künstlerisch gestalteten, aber für Laien schwer verständlichen Kurzfilms von 10 Min. Dauer,
  • Rezeption der ersten drei Themen einer aktuellen Nachrichtensendung (Tagesschau),
  • Rezeption einer "historischen" Nachrichtensendung (Tagesschau von 1980),
  • Rezeption einer Folge der Serie "Gute Zeiten schlechte Zeiten",
  • Besuch der Homeopage "Gute Zeiten schlechte Zeiten",
  • Rezeption von drei Kapiteln des Dokumentarfilms "Deep Blue" über das Leben im Meer.

Diese Untersuchungen varriieren wesentliche mediale Aspekte nach Regel 3 der qualitativ-heuristischen Methodologie:

  • das Medium und das Genre (Kunstfilm, Nachrichtensendung, Daily Soap, Internetseite, Dokumentarfilm),
  • die Verständlichkeit des medialen Produkts (schwer verständlich im Falle des Kunstfilms, leicht dagegen bei den anderen Medientypen),
  • die Herstellung, den Zeitbezug der Sendung (aktuelle Filme vs. ältere Filme),
  • die Präsentationsform des Films, der Sendung (in der Gruppe der Tn gezeigt, individuell durch jeden Teilnehmer für sich rezipiert),
  • die Rezeptionsdauer (kürzere vs. längere Filme, Sendungen).

Außerdem wurden die Rezipienten variiert. Während die überwiegende Zahl an Untersuchungen in unserer Forschergruppe mit Erwachsenen durchgeführt wurde, wurde inzwischen begonnen, auch andere Forschungsteilnehmer einzubeziehen. Die Introspekionsuntersuchung mit dem Dokumentarfilm "Deep Blue" wurde mit einer Kleingruppe von Kindern unterschiedlichen Alters (von 6 bis 14 Jahren) ausgeführt.


 3. Übersicht über die inhaltlichen Ergebnisse

Es zeichnen sich folgende Ergebnisse ab, die an anderer Stelle ausführlicher zusammengefasst sind (Burkart & Wilhelm, 1999; Kleining & Burkart, 2001):

  • Rezeption ist keine passive Aufnahme eines medialen Geschehens, sondern ein explorativer dialogischer Prozess mit rezeptiven und aktiven Dialogqualitäten.
    Ein mediales Produkt löst einerseits fortlaufend Gefühle, Stimmungen, Assoziationen und Erinnerungen aus, die "in Dialog treten" mit der laufenden Filmsequenz.
    Andererseits sind im Rezeptionsprozess aktive Momente enthalten, die auch der Selektion medialer Inhalte dienen. Die Rezipienten stellen sich Fragen, bilden Erwartungen, transformieren, bewerten und interpretieren die Rezeptionsinhalte (Personen, Filmfiguren, das Geschehen, die Musik) und seine Form (z.B. Schnitte, Wechsel zwischen Schwarz-Weiß- und Farbpassagen) und die durch den Film bewirkten Assoziationen.
  • Die Rezeption ist mit dem Bemühen um Sinnerkenntnis verbunden – dem Ziel, das Fremde, Unverständliche in Vertrautes, Bekanntes oder Interesantes für das Subjekt einzuordnen. Diese Sinnsuche, die gelingen oder misslingen kann oder vom Subjekt abgebrochen und damit gewissermaßen zurückgewiesen wird, erfolgt bei vertrauten medialen Inhalten nebenbei, gewisser-maßen im Hintergrund, bei schwer verständlichen dagegen im Vordergrund des rezipierenden Bewusstseins.
  • Ein mediales Produkt wird angeeignet über eine Verbindung mit persönlichen Erfahrungen, Erlebnissen oder Konzepten des Rezipienten. Sie bilden den Hintergrund der Rezeption, in den das mediale Produkt schließlich eingeht. Der Film wird mit vorhandenen Konzepten verglichen, in Vorhandenes eingepaßt, wobei dies z.T. nur möglich ist, in dem die Filminhalte transformiert werden (z.B. übertrieben charakterisiert werden).
  • Im dialogischen Rezeptionsprozess finden sich mindestens drei Rezeptiosstile[1] – den involovierten, den distanzierten und den desinteressiert, gelangweilten, die sich in der Art und Vielfalt der dialogischen Prozesse zwischen medialen Gegenstand und Rezipient unterscheiden und die auch bei einer Person während einer längeren Rezeption wechseln können.
    Die involvierte Rezeption, in der rezeptive Momente überwiegen,[2] ist offen für Sinneseindrücke und die durch den Film bewirkten Gefühle, Stimmungen, Assoziationen. Bild und Ton werden nicht getrennt, sondern verbunden, verschmolzen zu einem Gesamteindruck wahrgenommen. Der Rezipient findet viele Bezüge für eine mentale Interaktion mit dem medialen Produkt, Trans-formationen bringen ihn dichter an das mediale Produkt.
    Die distanzierte Rezeption mit reduzierter Interaktion, in der aktive Momente überwiegen,2 ist beurteilend, wertend, wenig offen für die durch den Film bewirkten Gefühle und Stimmungen und eher zergliedernd (Bild und Ton werden mitunter getrennt wahrgenommen). Die mit ihr verbundene mentale Aktivität führt zu einer größeren Distanz zum medialen Produkt.
    Die gelangweilte oder desinteressierte Rezeption, bei der kein befriedigender Dialog zwischen Subjekt und medialem Geschehen zustande kommt, kann keinen Bezug zum medialen Produkt herstellen, das nicht den Bedürfnissen und Erfordernissen des Subjekt entspricht und ihm nur bedeutungslose In-formation zur Verfügung stellt.

Diese Rezeptionsstile entsprechen den allgemeinen Gefühlsmerkmalen Subjektinvolvierung (berühren, aufwühlen, mitreißen vs. kalt lassen, gelangweilt sein) und Verbindungsqualität (eins fühlen vs. distanziert, fremd fühlen), die sich auf das Verhältnis von Gefühlsgegenstand und fühlendem Subjekt beziehen (vgl. Burkart, 2003; 2005). Es ist deshalb davon auszugehen, dass Gefühlsprozesse eine zentrale Bedeutung bei der Rezeption von Medien besitzen.


4. Möglichkeiten und Grenzen der Methode

Mit der Methode lassen sich differenzierte Daten über den mentalen Prozess der Medienrezeption bzw. der Interaktion mit Medien gewinnen, wie der folgende Ausschnitt aus einem transkribierten Introspektionsbericht aus der Untersuchung zur Rezeption des Kunstfilms zeigt, in dem sich rezeptive und aktive Rezepti-onsmodi bei vorherrschender involvierter Rezeption[3] abwechseln und auch ein Bemühen um Sinnerkenntnis deutlich wird:

    Und die Bilder haben mich zunächst ein bisschen verwirrt, weil ich irgendwie dachte, das ist Sommer, so von dem Licht her. Und dann war da aber so ein kahler Baum. Das habe ich gar nicht verstanden. Und ich habe auch die Worte nicht verstanden, die die gewechselt haben. Und habe aber gleichzeitig gemerkt, dass es gar nicht wichtig ist, die Worte zu verstehen, sondern den Ton. Und der war sympathisch. Und dann habe ich gedacht: Das stimmt ja, jetzt gehen die zusammen weg. Es war für mich ein Erlebnis, dass ich das gut erkannt hab.
    Ich bin dann auch bei dem Farbwechsel irgendwie verunsichert worden. Ich habe dann so gedacht, was soll das jetzt? Soll das jetzt irgendwie so eine Wechsel zwischen Träumen und
    Realität, oder zwischen zwischen Erinnerung und Präsens sein. Und dann schien mir das so, als ob der eine Typ in der Badewanne, als ob der irgendwie so voll Blut und Tod ist. Und ich fand das irgendwie eklig.
    Und dann dieser Zusammenbruch mit dieser Musik, die also überhaupt nicht passte. Also ich fand das so ... wie so eine Persiflage auf die Musik. Die klang im ersten Moment für mich so griechisch. Die griechische Musik hat ja so einen besonderen Klang. Und das wurde aber dann irgendwie immer komischer. Und das hat mich sehr befremdet.

Die Methode läßt sich auch bei Kindern einsetzen, wobei erste Erfahrungen dafür sprechen, dass bei jüngeren, noch nicht alfabetisierten Kindern die stichpunktartige Protokollierung mit idiosynkratischen Zeichen – Zeichen die Kinder sich selbst als Erinnerungsstütze ausdenken – möglich ist. Statt des ausführlichen schriftlichen Protokolls kann mit Zeichnungen oder Bildern gearbeitet werden, die die Kinder als eine Art Protokoll erstellen.
Manche Tn erleben die Gruppensituation zunächst als Leistungssituation mit dem Anspruch möglichst interessante Prozesse bei sich zu entdecken. Mit zunehmender Übung und Vertrautheit mit der Methode verschwindet dieser Leistungscharakter.
Die Methode kann auch für andere Medienformate eingesetzt werden, wobei wir insbesondere an Radio, TV und Printmedien denken.
Wie alle Forschungsmethoden hat auch die Introspektion Grenzen. Sie ergeben sich insbesondere aus der Sprachabhängigkeit der Methode – die Methode ist für jüngere Kinder nicht geeignet – sowie aus der Introspektionsfähigkeit, die bei manchen Menschen mit psychischen Störungen nicht gegeben oder herabgesetzt ist.
Darüber hinaus sind außerdem vertikale und horizontale Grenzen vorhanden – Grenzen, die sich auf die Fülle und die Tiefe des Materials beziehen. Die horizontalen Grenzen ergeben sich aus der Fülle der innerer Prozesse, die trotz stichpunktartiger Protokollierung während des Erlebens nicht vollständig protokolliert werden können. Ein gewisser Verlust ist unabwendbar, wobei die die Lücken z.T. aus der Protokollierung deutlich werden. Wie uferlos das Fixieren des Erlebens sein kann, zeigen auch literarische Introspektionen, wie beispielsweise Marcel Proust´s (1913/1927) „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ .
Wegen der Eigenart des Gedächtnisses, eher das Besondere, emotional Bedeutsame zu bewahren, gibt es möglicherweise ein Risiko des Ignorierens „normaler“ Ereignissse.
Neben diesen horizontalen Risiken, die sich auf den Verlust von erlebten aber vergessenen Inhalten bezieht, gibt es vertikale Grenzen wegen der dem Bewusstsein nicht zugänglichen psychischen Prozesse. Auch sie werden z.T. aus den Protokollen deutlich.


5. Zusammenfassung

Die Methode der Dialogischen Introspektion hat sich in Versuchen mit varierten Filmtypen als gut und effizient anwendbar zur Untersuchung des Rezetionsprozesses erwiesen. In vergleichsweise kurzer Zeit und mit geringem Forschungsaufwand lassen sich intersubjektiv valide Erkenntnisse über das Erleben von unterschiedlichen Medienformaten gewinnen. Die bisherigen Ergebnisse lassen die Rezeption als einen explorativen, sinnzentrierten Dialog mit aktiven und rezeptiven Momenten erscheinen, in dem sich drei Rezeptionsstile finden – involviert, distanziert oder gelangweilt / desinteressiert.


Literatur

Burkart, Thomas & Wilhelm, Monika (1999). Introspektion bei der Rezeption eines Kurzfilms. Arbeitspapier. [Vortrag auf der Tagung "Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken...", 1. und 2.10.1999, Bremen], http://www.introspektion-hamburg.net/html/filmrezeptionburkart.html (12.8.2006)
Burkart, Thomas (2003). A Qualitative-heuristic Study of Feeling. In Mechthild Kiegelmann & Leo Gürtler (Eds.), Research Questions and Matching Methods of Analysis (pp. 109-124). Tübingen. Ingeborg Huber Verlag. Zugänglich auch über: http://www.introspektion-hamburg.net/html/feelingburkart.html (9.9.2006).
Burkart, Thomas (2005). Towards a dialectic theory of feeling. In Leo Gürtler, Mechthild Kiegelmann & Günter L. Huber (Eds.), Areas of qualitative psychology – Special focus on design (pp. 39-62). Tübingen, Germany: Ingeborg Huber Verlag.
Kleining, Gerhard (1982). Umriss zu einer Methodologie qualitativer Sozialforschung. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 34, 224-253.
Kleining, Gerhard (1994). Qualitativ-heuristische Sozialforschung. Schriften zur Theorie und Praxis (2. Aufl.). Hamburg: Fechner.
Kleining, Gerhard (1995). Lehrbuch Entdeckende Sozialforschung. Band I. Von der Hermeneutik zur qualitativen Heuristik. Weinheim: Beltz Psychologie Verlags Union.
Kleining, Gerhard & Burkart, Thomas (2001). Group-based Dialogic Introspection an its Use in Qualitative Media Research. In M. Kiegelmann (Ed.), Qualitative Research in Psychology. (S. 217-239). Schwangau: Ingeborg Huber.
Kleining, Gerhard & Witt, Harald (2000). Qualitativ-heuristische Forschung als Entdeckungsmethodologie für Psychologie und Sozialwissenschaften: Die Wiederentdeckung der Methode der Introspektion als Beispiel [19 Paragraphen]. Forum Qualitative Social Research [Online journal], 1 (1), http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/1-00/1-00kleiningwitt-d.htm (12.8.2006).
Proust, Marcel (1973). Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Werkausgabe in 13 Bänden. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (Erstausgabe 1913–1927)
Qualitativ-heuristische Sozialforschung Hamburg. Introspektion, http://www.introspektion-hamburg.net (12.8.2006).
Qualitativ-heuristische Psychologie und Sozialforschung Hamburg, k.D., http://www.heuristik-hamburg.net (12.8.2006).


Anmerkungen

1  Diese drei Rezeptionsstile fanden sich in unseren bisherigen Untersuchungen. Es ist davon auszugehen, dass es weitere gibt, da unsere Untersuchungen nicht alle wesentlichen Rezeptionsmerkmale abbilden.
2  Es gibt auch rezeptive Momente bei der distanzierten Rezeption, da das Abgelehnte zunächst aufgenommen werden muss, und auch aktive Momente bei der involvierter Rezeption, wie bei der Verringerung oder gar Aufhebung der Trennung zwischen Rezipient und Film.
3 Die involvierte Rezeption wird wiederholt durch Irritationen unterbrochen, die dadurch entstehen, dass dem Rezipientin eine Integration der fremd erscheinenen Inhalte misslingt.

 

Zurück