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 Otto Selz: Die Selbsterforschung des Denkens

        Eine kurze Darstellung für die Hamburger Forschungswerkstatt

        von Peter Mayer (20.03.04)

 

Otto Selz gilt mit seinen frühen Forschungen vor und um den 1. Weltkrieg zum geordneten Denkverlauf als der eigentliche Begründer der modernen Denkpsychologie. Seine durch die systematische Anwendung der experimentellen Selbstbeobachtung, respektive Introspektion durchgeführten Untersuchungen zum geordneten Denkverlauf führten insgesamt zur Ablösung des in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg in der Psychologie als Paradigma gültigen Assozianismus (Assoziationstheorie), gedacht als assoziative Verbindungen von psychischen Elementarvorstellungen, hin zu dem Konzept des psychischen Geschehen als ein System spezifischer Reaktionen. Aus dem Begriff der „Denkoperation“ entwickelte Selz seine Theorie des Denken als ein zielorientiertes Handeln in Hinblick auf die Lösung einer Aufgabe. Die Daten, die Selz schließlich zur Entwicklung seiner Denk- und Problemlösetheorie, führten, gewann er ausschließlich über die, in seinen experimentellen Untersuchungen zum Denk- und Problemlöseverlauf gewonnenen qualitativen Aussagen seiner Versuchspersonen zu ihren Erlebnissen während des Lösungsvorganges einer ihnen gestellten Denkaufgabe. Insofern hatten seine Forschungen einen entdeckenden, d.h. heuristischen Charakter, weil er über sie zu Daten über neue, bisher unbekannter psychologischer Zusammenhänge gelangen konnte.  

Seine Denkpsychologie als ein Ablauf zielgerichteter Handlungen beeinflusste schließlich nachhaltig die erst nach dem zweiten Weltkrieg entstandene kognitive Psychologie und fand ihre Auswirkungen auch in der mit der Computerentwicklung zusammenhängenden Künstlichen Intelligenz und schließlich auch über die Begriffe des Lernens als kreative Problemlösung als Ausdruck einer kreativen Intelligenz auch in die Pädagogik.

 

Gliederung:

1. Einleitung

2. Zur Biografie

3. Otto Selzens Denktheorie

4. Zur empirischen Datengewinnung

5. Die Bedeutung von Otto Selzens Denktheorie

6. Literatur

 

       1. Einleitung

 

In der Psychologiegeschichte zählt Otto Selz (1881 – 1943) zu den bekannten Unbekannten. Allmählich für die breitere Fachöffentlichkeit wieder bekannt und der drohenden Vergessenheit entrissen wurde er durch die Bemühungen u.a. von Carl-Friedrich Graumann (1964)[1], von Karl-Josef Groffmann (1981) und dessen Wiederveröffentlichung der 1924 erstmals veröffentlichten kurzgefassten Darstellung von Otto Selzens Denktheorie „Die Gesetze der produktiven und reproduktiven Geistestätigkeit“, schließlich durch die sehr akribisch durchgeführte psychologiehistorische Untersuchung Hans-Bernhard Seebohms (1970) und durch die Herausgabe ausgewählter Schriften Selzens zum „Wahrnehmungsaufbau und Denkprozess“ von Alexandre Métraux und Theo Herrmann (1991). Dadurch wurde die Arbeiten Selz` zur Denkpsychologie, Erkenntnistheorie, Phänomenologie und Pädagogik wieder einer breiteren interessierten Fachöffentlichkeit zugänglich. Nach Métraux und Herrmann (1991) liegt seine relativ geringe Verankerung im psychologischen Mainstream primär daran, weil seine Denktheorien ebenso wie die Denk- und Willenspsychologie der Würzburger Schule unter Oswald Külpe (1896 – 1909) und ihrer speziellen Forschungsmethode der Introspektion anders als die erste Leipziger Schule unter Wilhelm Wundt als auch die Berliner Schule der Gestaltpsychologie im Selbstverständnis heutiger Fachvertreter kaum oder gar nicht traditionsbildend gewesen waren. Die Theorien und Methoden Wundts gelten heute zwar als überholt und die Gestaltpsychologie der Berliner Schule bestenfalls als Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen und Theoriebildungen, aber sie stellen doch zwei wichtige Traditionslinien für die heutige Psychologie dar, während eine, durch die Arbeiten Selzens begründbare und mögliche Traditionslinie in der Denkpsychologie durch sein Schicksal der Verfolgung jäh abgebrochen wurde und in Vergessenheit zu geraten drohte. Wie die psychologiehistorische Forschung zeigte (vergl.Koob 1981), sind die Konzepte Selzens eher über Umwege als über direkte Traditionslinien unter anderem in die Entwicklung der erst nach den zweiten Weltkrieg entstandenen Kognitiven Psychologie und der relativ, neuen mit der Entwicklung des Computers zusammenhängenden „ArtificialIntelligence“hineingeflossen und haben schließlich in seinem Emigrationsland die Niederlande auch die Pädagogik beeinflusst.

Fiel die Methode der Würzburger Schule, die Selbstbeobachtung, zu deren methodologischen und methodischen Entwicklung insbesondere die Arbeiten Karl Marbes (1901) und Karl Bühlers (1907) beigetragen haben, dem Verdikt mangelnder Objektivität und somit der Unwissenschaftlichkeit zum Opfer (s.a. Watson 1913, Boring 1953), so kam bei Selz, der von 1924 – 1933 ordentlicher Professor und Ordinarius für Philosophie, Psychologie und Pädagogik an der Handelshochschule Mannheim war, 1929/30 das Rektorat innehatte und zu den hervorragenden Vertretern seines Faches gerechnet wurde, (verg. Groffmann 1981) das Moment der nationalsozialistischen Verfolgung aus rassischen Gründen hinzu, was eine allmählich entstehende Traditionslinie in der Denkpsychologie jäh zerrissen hatte. Durch seine Zwangsemeritierung 1934 aufgrund der nationalsozialistischen Gesetzgebung wurde seine Verbindung zu Fach- und Kollegenkreisen unterbrochen und seine wissenschaftlichen Arbeits-, Forschungs- und Publikationsmöglichkeiten auf schwerste behindert, wenn nicht total unmöglich gemacht.

 

       2. Zur Biografie

 

Der einer Familie des gehobenen jüdischen Bildungsbürgertums entstammende Otto Selz, geboren am 14. Februar 1881 in München,  wurde von seinem Vater entgegen Otto Selzens eigentlichem Interesse an philosophischen und psychologischen Fragestellungen zu einem Brotstudium der Jurisprudenz überredet, welches er 1899 in München begann und mit der Ersten juristischen Staatsprüfung 1904 und der Zweiten juristischen Staatsprüfung 1907 erfolgreich abschloss. 1908 erwarb er die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft beim Oberlandesgericht München. Er übte den Beruf des Rechtsanwalts allerdings nie aus und ließ sich konsequenterweise nach seiner Habilitation für das Fach Philosophie und Psychologie an der Universität Bonn 1912 aus der Rechtsanwaltsliste wieder streichen.

Selz besuchte neben seinem Jurastudium vom ersten Semester regelmäßig Veranstaltungen bei Theodor Lipps in München und bei Carl Stumpf in Berlin. Bei Theodor Lipp promovierte er schließlich in Philosophie 1909 mit dem Thema: Die psychologische Erkenntnistheorie und das Transzendenzproblem. 

In seiner Dissertation wendet sich Selz in der kritischen Durcharbeitung des englischen Empirismus von Locke, Berkeley und Hume gegen die empiristische Annahme, dass sich die Existenz der Welt aus den dem Bewusstsein immanenten Erfahrungsdaten (Empfindungen, Vorstellungen und Verbindungen zwischen diesen elementar gegebenen Anschauungselementen) ableiten lassen könne. Nach Theodor Lipps Gutachten[2] ist die Fragestellung der Arbeit die der Transzendenz oder Immanenz, d.h. ob die Existenz der Welt unabhängig vom Bewusstsein (transzendent) oder nur im Bewusstsein als Sinnesdatum (immanent), im Sinne eines die Welt unmittelbar habenden Bewusstseins zu verstehen ist. Über die Auseinandersetzung mit der  Naturwissenschaft findet Selz starke Argumente für die Annahme der ‚absoluten’ Existenz der Welt der Dinge als die (pragmatisch) für unser Erkenntnisbedürfnis befriedigendste Hypothese. Erst die Naturwissenschaft habe die Dinge außer uns und das Bild in uns als Ursache und Wirkung getrennt.

In der Auseinandersetzung mit dem englischen Empirismus und dem damit verbundenen Assozianismus gelang es ihm die philosophischen Wurzeln des später insbesondere durch Wundt in die Psychologie hineinreichende und maßgeblich beeinflussende Assoziationsmodell menschlichen Denkens zu erfassen, welches er später mit seinen denkpsychologischen Forschungen zum Thema des Denkverlaufes überwinden wird.

Nach seiner Dissertation gelangte Selz an das Bonner Institut für Philosophie und Psychologie unter der Leitung von Oswald Külpe. Dort hielt er schließlich am 5.12.1912 seine Antrittsvorlesung zum Thema „Die Gesetze der produktiven Tätigkeit“, mit der er sich gleichzeitig bei Oswald Külpe habilitierte.

Nach der erfolgreichen Habilitation unterrichtete er als Privatdozent an der Uni Bonn Philosophie, Erkenntnistheorie, Pädagogik und Denkpsychologie und setzte zudem seine Untersuchungen zur Analyse des menschlichen Denkens weiter fort, die schließlich, infolge des ersten Weltkrieges verzögert, erst 1922 unter dem Titel: „Zur Psychologie des produktiven Denkens und des Irrtums“ erschienen. Nach dem Wehrdienst an der Westfront, einer Beamtenstelle im preußischen Kriegsministerium und der Wiederaufnahme seiner Privatdozententätigkeit nach Kriegsende 1918 wurde Selz 1921 zum außerordentlichen Professor an der Uni Bonn ernannt. Schließlich erhielt er als Krönung seiner wissenschaftlichen Laufbahn 1923 den Ruf als Ordinarius für Philosophie, Pädagogik und Psychologie an der Handelshockschule Mannheim. Dort leitete er das Institut für Psychologie und übernahm 1929-30 das Amt des Rektors der Handelshochschule.

Mit der Machtübernahme Adolf Hitlers und der Nationalsozialisten verlor er wie viele andere berühmte Wissenschaftler jüdischer Abstammung ihre Stellung an den deutschen Universitäten. Selz wurde 1934 in den einstweiligen Ruhestand versetzt, lebte zwangsweise zurückgezogen und abseits von jeder wissenschaftlichen Interaktion. Schließlich wurde Selz 1938 zur Emigration in die Niederlande gezwungen. Dort wurde er später mit Lehrverbot belegt, konnte sein Leben gerade noch durch Unterstützung von niederländischen Fachkollegen und einem zeitweiligen Stipendium der Universität Amsterdam bestreiten, bis er dann unter der deutschen Besetzung der Niederlande ab Mai 1940 sukzessive jeder Lebensgrundlage beraubt wurde und schließlich auf einem Transport nach Auschwitz Ende August 1943 umkam.      

 

       3. Otto Selzens Denktheorie

       

Auch wenn Otto Selz nicht zum engeren Kreis der Würzburger Schule unter Külpe gehörte, hatte Selz deren Methode der Selbstbeobachtung zur Untersuchung eines sehr komplexen psychologischen Problems, der Untersuchung des reproduktiven und produktiven Denktätigkeit systematisch angewandt. Aus seinen Veröffentlichungen und seinen von Seebohm (1970) akribisch gesammelten und analysierten Untersuchungsprotokollen und Notizen geht hervor, dass diese Methode der methodologisch und methodisch kontrollierten Introspektion die Zugangsmethode Otto Selzens zu verborgenen, inneren psychischen Daten und Abläufen seiner Versuchspersonen war. So ist Selzens Denktheorie empirisch auf seine introspektiv gewonnenen Daten begründet. 

Die von Otto Selz im Bonner psychologischen Institut durchgeführten experimentellen Untersuchungen zum Thema des Denkverlauf, zu dem so unterschiedliche Dinge wie die Wissensaktualisierung, das Problemlösen, der Irrtum, die zufällige oder schöpferisch-kreative Leistung gehörten, stellt insofern eine Fortsetzung der Tradition der Würzburger Schule um Oswald Külpe dar, weil er die insbesondere von Karl Bühler (1907) methodologisch weiterentwickelte Methode der Selbstbeobachtung systematisch auf die oben genannten Aspekte des Denkverlauf angewandt hatte. In verschiedenen Schriften u.a. dem während in seiner Emigration in Holland entstandenen Manuskript „Die geistige Entwicklung und ihre erzieherische Beeinflussung“(1942/1991) bezog sich Selz ausdrücklich auf diese Methode und deren Ergebnisse[3] u.a. zum „unanschaulichen Denken“ (Bühler 1907) beziehungsweise „unanschaulichen Bewusstheiten“ (Ach 1905) und zum anderen hob er seine eigenen Beiträge zur Weiterentwicklung der Denkpsychologie der Würzburger Schule hervor.

Die denkpsychologischen Forschungen Otto Selzens führten, wie Alexandre Métraux und Theo Herrmann (1991) in ihrer Übersicht zu Selzens Leben und Werk hervorhoben, insgesamt zu einer radikalen Kritik an dem traditionellen Erklärungsmuster des Assozianismus. In seiner Kritik an dem Assozianismus bricht er mit der traditionellen Ansicht, dass sich das psychische Geschehen insgesamt auf anschaulich gegebene Bewusstseinselemente zurückführen lassen müsse. Wie Selz (1924/1981) in seiner kurzgefassten Darstellung zu den Gesetzen der reproduktiven und produktiven Geistestätigkeit hervorhebt, führten keine theoretisch-philosophischen Überlegungen zu dem Bruch mit der Assoziationspsychologie, sondern empirische Ergebnisse:, „Ihre theoretischen Voraussetzungen [der Assoziationspsychologie] haben sich noch in den letzten Jahrzehnten...so gut bewährt, dass es zwingender Gründe bedarf, um ein Abgehen von ihnen zu rechtfertigen. Solche zwingenden Gründe sind aber durch die neuesten Untersuchungen der experimentellen Denkpsychologie zutage getreten“ (Selz 1924/1981, 33).

Sprich: durch die systematische Anwendung der Würzburger Methode der Selbstbeobachtung ist Otto Selz zu Daten zum geordneten Denkverlauf (später zu den Gesetzen der reproduktiven und produktiven Geistestätigkeit) gelangt, die dem Denkmodell des Assozianismus widersprachen.

 

      3.1. Zur Assoziationspsychologie

       

Nach dem Verständnis der Assoziationspsychologie (vergl. Wundt 1911) geht tendenziell jeder psychische Vorgang eine Beziehung (Verbindung) mit dem ihm zeitlich unmittelbar folgenden Vorgang ein, die sich bei Wiederholung stabilisiert und verstärkt. Die sich aus den Erfahrungen des Subjekts ergebenden assoziativen Verbindungen finden ihren Niederschlag als abrufbare Residuen oder Spuren im Gedächtnis. Deshalb ruft ein gesprochenes oder gelesenes Wort all jene Verbindungen in Form von bildhaften Vorstellungen hervor, die das Subjekt aus seinen früheren Erfahrungen her kennt und mit diesem Reizwort verbindet.

Und diese Vorstellungen bewirken dann wiederum das Wiederhervorrufen (Reaktualisieren) von noch früheren, weiteren gespeicherten, mit dieser Vorstellung in Verbindung stehenden Vorstellungen, so dass nach Selz, „...die durch das Reizwort ausgelösten Reproduktionstendenzen nach allen Richtungen auseinander gehen, sich zerstreuen oder diffundieren. Darum kann das psychische Geschehen in der Darstellung der Assoziationspsychologie als ein System diffuser Reproduktionen bezeichnet werden“ (Selz 1924/1981, 34).

Mit diesem psychischen Strukturmodell kann die Assoziationspsychologie, so Selz, nicht die Gesamtheit des psychischen Geschehens erklären, denn die Gesamtheit assoziativer Verbindungen zwischen den elementaren psychischen Vorgängen lässt beliebig viele Wege und Schlaufen zwischen diesen einzelnen elementaren Vorstellungen zu. Die klassische Lesart der Assoziationspsychologie lässt als einziges Ordnungsprinzip die jeweilige Stärke und Intensität dieser assoziativen Verbindungen gelten, welche darüber entscheidet, welche miteinander konkurrierenden Reproduktionstendenzen gehemmt und welche aktiviert werden. „Die gesetzesmäßige Verdrängung der schwächeren Reproduktionstendenzen durch die jeweils stärkste ist der einzige richtungsbestimmende Faktor im psychischen Geschehen...“ (Selz 1924/81, 35).

 

      3.2. Otto Selz: Denken als ein System spezifischer Reaktionen

 

Die experimentelle Denkpsychologie der Würzburger Schule war der Ausgangspunkt von Selzens Arbeiten. Wie bereits dargelegt, wandte sich die Würzburger Schule um Külpe, hier insbesondere Karl Bühler gegen die bis dahin vorherrschende Assoziationspsychologie. Unter Denkvorgänge verstanden Külpe und seine Schüler und Mitarbeiter neben anschaulichen Wahrnehmungen und Vorstellungen auch unanschauliche Bewusstseinsakte.

Vom Willen gesteuerte Denkakte lassen sich nicht durch eine zeitliche Verknüpfung von Assoziationen oder durch deren Stärke und Intensität hinreichend erklären., sondern durch die durch die jeweilige Denkaufgabe ausgelöste „Einstellung“ beziehungsweise „determinierende Tendenz“ (n. Ach 1905) der Versuchsperson. Diese „Einstellung“ beziehungsweise „determinierende Tendenz“ tauchen dabei unanschaulich im Bewusstsein auf und übernehmen selektive Funktionen, so dass gezielte Denkvorgänge zu Problemlösungen ablaufen, ohne dass sich die Versuchsperson dabei einer konkreten Zielvorstellung zur Aufgabenlösung bewusst sein muss. Für seine Untersuchungen zum geordneten Denkverlauf übernimmt SelzNarziß Achs Begriff der „determinierenden Tendenzen“ (Ach 1905). Dabei grenzt sich Selz allerdings vonAchsassozianistischen Verständnis ab. Ach fasste noch die selektiven Funktionen dieser determinierenden Tendenzen im Sinne einer assoziativen Konstellationstheorie auf, nach der im wesentlichen die assoziativen Reproduktionstendenzen fortdauernd aktiviert werden, die von der (unbewussten) Zielvorstellung, beziehungsweise den die Aufgabe repräsentierenden Bewusstseinserlebnissen ausgehen (vergl. Selz 1913: 4). Ach ist nach Selzens Feststellung in seinen Forschungen weitestgehend an dem Modell des Assozianismus stehen geblieben trotz seiner (Achs) experimentell gewonnener Erkenntnisse zu Phänomenen „unanschaulicher Bewusstheit oder  zu denen „unanschaulichen Wissens“.

Dieser Ansatz, Denken als ein System spezifischer Reaktionen zu begreifen, und die dabei angewandte Methode der Introspektion, die Selz bei Oswald Külpe während dessen Bonner Zeit kennen lernte, stellte den Ansatzpunkt von Selzens weiteren Forschungen dar. Insofern wird Selz nach Groffmann (1981) häufig der Würzburger Schule zugerechnet, ging aber, wie Groffmann ergänzt, in seiner Methodik und seinen Annahmen zum Denkverlauf über die Würzburger Schule hinaus.                         

In seinen Forschungen zur reproduktiven und produktiven Geistestätigkeit wandte Selz systematisch die introspektive Methode an. Die Abfolge seiner Aufgabenstellung variiert er nach einem festen Plan. Dabei verlangt er zu einem Reizwort von der Versuchsperson die Denkoperationen[4] der Überordnung, der Nebenordnung, der Bestimmung von Teil und Ganzem und der Definition (vergl. Groffmann, 23). Außerdem systematisiert er den Vorgabe-, Abfragemodus und die Protokollierung, um Fehlereinflüsse zu kontrollieren.

Im Gegensatz zum Denkmodell der Assoziationspsychologie, die das psychische Geschehen als ein System diffuser Reaktionen auffasst und „..daher genötigt ist, als Ordnungsfaktor in diesem Geschehen die gegenseitige Förderung bzw. Hemmung isolierter Reproduktionstendenzen anzusehen...“ (Selz 1924, 37), betrachtet Selz das psychische Geschehen als ein System spezifischer Reaktionen. Dieses liegt dann vor, „...wenn die auslösenden Reize so scharf differenziert sind, dass einem bestimmten Reiz nur eine einzige Reaktion konstant zugeordnet ist, so dass im Idealfall ein Diffundieren konkurrierender Reaktionen, wie es im System der klassischen Assoziationspsychologie die Regel bildet, überhaupt nicht stattfindet“ (37).

Selz geht zudem davon aus,

  • dass Vorstellungs- und Denkprozesse durch das Ziel gesteuert werden,
  • dass das Ziel keine Bewusstseinserlebnisse, sondern intellektuelle (und motorische) Operationen mobilisiert.

Während der eigentlichen Denkoperation zur Problemlösung wird -

  • der Erfahrungsschatz brauchbarer Methoden zur Problemlösung eröffnet und auswählend angewandt: Operation der Abstraktion.
  • Neben der Abstraktion werden Methoden der Kombination angewandt. Erlebte Zusammenhänge werden analog nachkonstruiert.
  • Allgemeines Wissen wird unter Leitung der Erfahrung aktualisiert und zur Aufgabenlösung benützt (n. Seebohm 1970: 72).

Schematisch lassen sich Selzens zentrale Konzepte seiner Theorie folgendermaßen zusammenfassen:

Selz versteht das Denken als Handeln[5] einer Person in Hinblick auf die Lösung einer Aufgabe. Im Gegensatz zum Assoziationsmodell integriert das Subjekt die Reaktionen und steuert sein zielgerichtetes Verhalten ganzheitlich. Die Gesamtaufgabe – bestimmt durch die Reizsituation und der Gesamtaufgabenstellung – löst bei der Versuchsperson eine zunächst noch unklare schematische Antizipation eines Zielbewusstseins[6] aus. Selz sieht dieses Zielbewusstsein als antreibende und orientierende Instanz für die dadurch in Gang gesetzten Denkoperationen an. Die Denkoperationen zur Aufgabenlösung, ausgelöst durch die Vorgänge der Komplexassoziation, der determinierenden Abstraktion und der Komplexergänzung[7] richten sich darauf aus, die grobe schematische Antizipation, also die grobe gedankliche (oder vorstellungsmäßige) Vorwegnahme des Aufgabenziels, d.h. der Lösung auszudifferenzieren.

Dabei stellt er eine Theorie der Wissensaktualisierung auf, in der er die sukzessive von der unmittelbaren Wissensaktualisierung unterscheidet. Die Komplexergänzung des antizipierten Schemas (im Sinne eines Handlungsvorentwurfes) in Richtung der Aufgabe sieht er auch als eine motivierende und richtende Kraft, als determinierende Tendenz. Darauf folgende spezifische Denkreaktionen laufen ebenfalls streng determiniert ab. Hier sieht man deutlich den Unterschied zu Achs Konzept, der noch die selektiven Funktionen dieser determinierenden Tendenzen im Sinne einer (assoziativen) Konstellationstheorie auffasst (s.o.).

Denken ist als intellektuelle Operation in vielen Teiloperationen zerlegbar, ist aber nicht identisch mit dem Besitz vom Wissen, sondern ist die Möglichkeit, das Wissen einschließlich der Mittelfindung zur Problemlösung (das Aufgabenziel erreichen zu können) anwenden zu können. Insofern ist das Denken, wie Groffmann (1981) und Seebohm (1970) hervorheben, bei Selz zugleich auch Handeln. Selz selbst sieht einen engen Zusammenhang von intellektuellen Denkoperationen und offensichtlichen Körperbewegungen, und betont, dass „...in unserem intellektuellen Geschehen eine nicht minder straffe Ordnung herrscht wie in unseren Bewegungen“ (1924, 43)[8].

Allerdings gibt es Unterschiede bezüglich des Zielbewusstseins von motorischen und Denkhandlungen. Nach Selz muss das Ausgangserlebnis einer zielbewussten intellektuellen Operation stets eine schematische Antizipation des Ziels sein, denn jedes Zielbewusstsein schließt eine denkende Vorwegnahme des Ziels mit ein. Allerdings ist „...eine vollständige Antizipation des Erfolges, wie sie bei motorischen Handlungen durch deren vorstellungsmäßigen Vergegenwärtigung stattfindet, .... bei Denkzielen nicht möglich, denn sie hätte die Bekanntheit der erst aufzufindenden Lösung zur Vorraussetzung“ (44).

Diese Ausführungen mögen zunächst als eine kurzgefasste Darstellung von Selzens Theorie des Denkens reichen, um einen Eindruck in die Komplexität ihres Aufbaus zu gewinnen.

Man kann allerdings jetzt schon feststellen, dass in einem kurzen Vergleich die Assoziationspsychologie mit assoziativen (bildhaften) Vorstellungen arbeitet, die Würzburger Schule die spezifischennicht anschaulichen Inhalte unseres Denkens untersucht und Selz schließlich das Denken als Operation, also als Denkhandlung auffasst. Selz hat damit, wie er 1924 selbst unterstreicht und Groffmann (1981) und Seebohm (1970) übereinstimmend feststellen, den Handlungsbegriff in die Denkpsychologie eingeführt – ein weiter Schritt gegenüber dem Verständnis der Assoziationspsychologie. Insbesondere grenzt sich Selz von Achs (1905) Verständnis der selektiven Funktionen dieser determinierenden Tendenzen im Sinne einer (assoziativen) Konstellationstheorie ab. Durch diese selektiven Funktionen werden, entsprechend Achs assozianistischen Verständnis die assoziativen Reproduktionstendenzen fortdauernd aktiviert, die von der (unbewussten) Zielvorstellung, beziehungsweise den die Aufgabe repräsentierenden Bewusstseinserlebnissen ausgehen (vergl.Selz 1913: 4). Selz hingegen fasst das (aufgabenlösende) Denken als ein mit der antizipierten Zielvorstellung zusammenhängendes und von dieser gesteuertes System spezifischer Reaktionen auf.

 

3.3. Otto Selz und die Gestalttheorie

 

In seinen späteren Arbeiten, ich verweise hier insbesondere auf Selz Arbeit „Über genetische Ganzheitsprobleme“ (1935/1991) und seine letzte, während seines Exils abgefassten Arbeit (s. 1942/91), beschreibt er sein grundlegendes Verständnis eines phänomenalen Aufbaus von Welt. Nach Selz können die Aufbauprinzipien der phänomenalen Welt nicht aus der Betrachtung der physischen Welt gewonnen werden. Damit kritisiert Selz den Versuch der Wertheimer-Köhlerschen Gestalttheorie und hier insbesondere die physikalistische Auffassung Wolfgang Köhlers[9], „... dass auch die Einheit der phänomenalen Welt, die der physischen im Bewusstsein entspricht, ihr Zusammenhang, ihre Ordnung und Gliederung auf dynamischen, und zwar physiologisch dynamischen Prinzipien beruhe“ (Selz 1935/1991, 26). Nach Selz ist uns die Erlebniswelt unmittelbar gegeben und wir können sie nach ihren eigenen Gesetzen beschreiben, die nicht Gesetze der physischen Welt sind. Nach Selzens Auffassung gehören zu den Aufbauprinzipien der phänomenalen Welt keine Kausalgesetze, die sich auf dynamische Kräfte u.a. beziehen, sondern Bildungsgesetze, die eher den Strukturgesetzen der Mathematik entsprechen. 

Selz setzt sich in dieser Arbeit insofern kritisch von der (Wertheimer-Köhlerschen) Gestaltpsychologie ab, weil sie seiner Auffassung zwar das mechanistische Weltbild des Assozianismus überwindet, aber trotzdem in der insbesondere von Wolfgang Köhler vertretenen physikalistischen Richtung der Gestalttheorie an der Betrachtung des geistigen Geschehens nach Analogie der Physik festhalte.

Hierbei muss kritisch angemerkt werden, dass die von Selz kritisierte physikalistische Ausrichtung zwar bei Köhler[10] offen zutage tritt, während hingegen Max Wertheimer (1923) die Gestaltenbildung in der menschlichen Wahrnehmung auf im Laufe der evolutionären Entwicklung des Nervensystems unter den Bedingungen der biologischen Umwelt entstandenen „biologische Gesetzlichkeiten“ (Wertheimer 336) zurückführt[11].

Mit dieser evolutionsbiologischer Begründung der Gestaltenbildung  steht Wertheimer als bedeutender Vertreter der Gestalttheorie dem von Selz in seiner letzten Arbeit (s. 1941/91) entwickelten  lebenswissenschaftlichen Standpunkt bedeutend näher, als von Selz selbst ursprünglich erkannt. 

Nach Selz (1941/91) habe die Gestalttheorie zwar aus der biologischen Betrachtung der Lebenserscheinungen den von dem Biologen und Philosophen Hans Driesch theoretisch und experimentell durchgeführten Gedanken der Bedingtheit der Lebensvorgänge vom Ganzen des Organismus her aufgenommen, und in den Vordergrund des psychologischen Interesses gerückt, habe aber im Gegensatz zu Driesch den Gedanken der Ganzbedingtheit des Naturgeschehens auch ausgedehnt und in diesem Sinne „Ganzheiten“, oder wie sie sie nennt, „Gestalten“ auch in der Physik nachzuweisen versucht, was allerdings nach den obigen Ausführungen primär auf Wolfgang Köhler Standpunkt zutrifft. Selzens Auffassung nach, glaubt die Gestalttheorie (hier der Köhlerschen Lesart), die Ganzbedingungen eines Geschehens in einem organischen System nach Analogie der vom Ganzen eines physikalischen Systems her bedingten Vorgänge erklären zu können. Diesen Glauben leiten die Gestaltpsychologen  (hier vorrangig Wolfgang Köhler) aus bekannten mechanistischen Entwicklungsvorgängen in der Natur (aus physikalischen Gesetzen) ab, wofür Selz die Kant-Laplacesche Theorie der Entstehung des Sonnensystems als ein Beispiel der Selbstgliederung eines noch nebelförmigen, ungegliederten Sonnensystems vom Ganzen her in einem Zentralkörper und dessen Planeten nannte. Dieser kosmologische Vorgang, welcher sich nach inneren physikalischen Gesetzen des Systems vollzöge, sei nach Selz, der große Versuch (der Köhlerschen Gestaltpsychologie), aus sinnfremden Ordnungsprinzipien  sinnhaftes Geschehen zu erklären.

Den gegenüber setzt Selz die biologisch-psychologische Erfahrung, dass wenigstens im organischen Geschehen objektiv-zweckmäßiges und daher sinnhaftes Verhalten am Anfang aller Entwicklung steht und jedem weiteren Entwicklungsschritt zugrunde liegt. Damit liegt er der oben skizzierten evolutionsbiologischen Auffassung Wertheimers nicht so fern..

Wie Seebohm (1970, 213, 214) herausgearbeitet hat, verstand sich Selz, in seinem Bestreben, die durch Descartes entstandene Spaltung der Wissenschaft zwischen Geisteswissenschaft (Philosophie) und Naturwissenschaft zu überwinden, als Lebenswissenschaftler. Lebenswissenschaftsei nach Selzens Verständnis eine Wissenschaftssparte, zu der er außer die Biologie, die Physiologie, die Geschichte und die Psychologie rechnet, die Gemeinsames mit den angrenzenden Wissenschaften (Natur- und Geisteswissenschaft) aufweist. Mit der Naturwissenschaft teilt diese Lebenswissenschaft die Eigenschaft, Gesetzeswissenschaft zu sein. Mit der Geisteswissenschaft verbindet sie die Eigenschaft, dass ihre Gesetze nicht unabänderlich vorgegeben sind, sondern jeweils aus dem Kontext heraus entstehen. Eigenständig ist diese Lebenswissenschaft auch insofern, dass die Mathematik nur bedingte Gültigkeit für sie hat, weil in ihr die Gesetze nicht (unabänderlich) gegeben sind, sondern werden.

Das zentrale Prinzip dieser Lebenswissenschaft ist, wie Selz (1942/1991) selbst hervorhebt, „..dass wenigstens im organischen Geschehen objektiv-zweckmäßiges und daher sinnhaftes Verhalten am Anfang aller Entwicklung steht, und jedem weiteren Entwicklungsschritt zugrunde liegt..“(83) und damit unterscheide sie sich nach Selz von der (anorganischen) Physik, die den klassische Fall von reiner Naturwissenschaft darstelle.

Dieser von der Biologie beeinflusste lebenswissenschaftliche Standpunkt des Erkenntnisphilosophen Selz führte neben seinen empirischen Befunden schließlich zur Aufgabe des mechanistischen Weltbildes der Assoziationspsychologie zu einem System zweckmäßiger auf ein Ziel gerichteter Verhaltensweisen.

 

    4. Zur empirischen Datengewinnung

 

Die Daten für seine 1913 veröffentlichten Habilitationsschrift „Über die Gesetze des geordneten Denkverlaufes“ hatte Selz mit 9 geisteswissenschaftlich ausgebildeten  Versuchspersonen  gewonnen. Er führte nach dem Bühlerschen Verfahren 141 Versuche mit 28 verschiedenen Aufgaben durch.

Die Versuchspersonen wurden im einzelnen namentlich erwähnt[12], sie schließen Külpe und  Bühler ein:

Prof. Dr. Külpe
Priv. Doz. Dr. Bühler
Prof. Dr. Girgensohn
GymnasiallehrerFredlund
Dr. phil. Honecker
Dr. phil. Kemp
Dr. phil. Rieffert
Dr. phil. Rüster
Dr. phil. Stöcker

 

4.1. Das Versuchssetting

 

In diesen Versuchen ließ Selz seine Versuchspersonen denken, dadurch, dass er ihnen Probleme zur Lösung vorlegte, die von ihm sehr genau und zielgerichtet ausgewählt worden sind.

Nach Selz (1913) hatten die Vpn. in Bezug auf die ihnen dargebotenen Reizwörter bestimmte Aufgaben zu lösen. Dabei behielt er prinzipiell dieselbe Untersuchungsmethode bei, die Watt, Messer und andere im Anschluss an ältere Assoziationsversuche angewandt hatten. Ähnlich wie bei diesen früheren Versuchen erfolgte die Darbietung des Reizwortes und der Aufgabe optisch. Die Aufgabe wurde zu einem Schlagwort abgekürzt, z.B. „Überordnung“[13]. Nur in einigen Fällen, in dem es weniger um die Beantwortung einer Frage ging, sondern um die Ausführung einer Tätigkeit, z.B. „Beschreibung“, wurde das Ausrufungszeichen am Ende des Schlagwortes durch ein Fragezeichen ersetzt. Aufgabe und Reizwort wurde mit Schreibmaschine untereinander gesetzt auf einzelne Papierblättchen niedergeschrieben und mit einem gleich großen Karton bedeckt, den die Versuchsperson in der Vorperiode des Experiments mit den Augen fixierte. Dann wurde vom Versuchsleiter das Vorsignal „bitte“ gegeben und beim Signal „jetzt“ zog der Versuchsleiter die Abdeckung weg und setzte die Fünftelsekundenuhr in Bewegung. Dann begann der Versuch.

Im Gegensatz zu vorigen Gedächtnisversuchen u.a. von Watt und Messer versuchte Selz durch die Aufgabenstellung geeignete Bedingungen herzustellen, um Denkvorgänge hervorzurufen, die über reine Gedächtnisleistungen hinausgingen. Es wurde in einem großen Teil der Fülle der Aufgaben die Auswahl der Reizwörter und ihre Zuordnung zu den Aufgaben so vorgenommen, dass die Lösung von der Mehrheit der Vpn. erst gefunden werden musste, also nicht eine schon vorhandene Lösung nur reproduziert werden konnte. Es wurde auch die Zeit zwischen Aufgabenstellung und Lösung gemessen, allerdings nicht mit einem sehr genauen Chronoskop wie bei vorigen Gedächtnisversuchen, sondern mit einer Fünftelsekundenuhr. Die Instruktion an die Vp. lautete auch, dass es nicht darauf ankäme, möglichst schnell zu reagieren wie in früheren (assoziativen) Gedächtnisversuchen, sondern, dass sie sich vielmehr die nötige Zeit zu einer bequemen und sinngemäßen Aufgabenlösungnähmen.

Die Selbstbeobachtung der Vp. nach der Aufgabenlösung sollte dazu dienen, „..den determinierten Ablauf [zwecks Untersuchung der Verlaufsformen determinierter Prozesse] unter den, für die experimentelle Selbstbeobachtung günstigsten Bedingungen weit zurückverfolgen zu können“ (Selz 1913,  8).

Nach Selz sollte es durch die Versuchsanordnung möglich sein, durch gleichzeitige Darbietung (die Vpn. erfuhren erst im jeweiligen Versuch die zu lösende Aufgabe) und variierender Aufgabenstellung, den Einfluss der Aufgabe vom Augenblick der Darbietung an festzustellen. Dazu dienten die Selbstbeobachtungen der Vpn. über ihr Erleben während der Hauptperiode des jeweiligen Versuches, also des Zeitraums von der Aufgabenstellung durch den Versuchsleiter bis zu der Aufgabenlösungen durch die Versuchspersonen. So wusste die Vp. die zu lösende Aufgabe nicht vor dem Versuch und konnte sich also bereits in der Vorbereitungsphase nicht auf die Lösung der Aufgabe vorbereiten. In der Instruktion vor dem Versuch wurden nur einzelne Aufgaben erörtert. Die Vpn. konnten dadurch völlig unvorbereitet vor völlig neuen Aufgaben gestellt werden, so dass nach Selz in den nachfolgenden Selbstbeobachtungen der gesamte innere Vorgang von der Aufgabenstellung bis zur Lösung vollständig erfasst werden konnte.     

Nach der Erledigung der Denkarbeit befragte Selz seine Versuchspersonen nach ihren Erlebnissen, die sie während ihrer Aufgabenlösung hatten. Während der eigentlichen Denkarbeit der Aufgabenlösung während der Hauptperiode des Versuches ist ihnen vorher vom Versuchsleiter strikt verboten worden, sich dieser Erlebnisse bewusst zu machen. Das diente dazu, das geistige Geschehen während des eigentlichen Aktes der Aufgabenlösung nicht durch die gleichzeitige Selbstbeobachtung zu stören. An Stelle der gleichzeitigen Selbstbeobachtung trat, ähnlich wie bei Bühlers Würzburger Versuchen die rückschauende (retrospektive) Selbstbeobachtung, die im unmittelbaren Anschluss nach Beendigung der Aufgabenlösung durch die Versuchsperson stattfand. Die Antworten der Vpn. wurden wie bei den Bühlerschen Versuchen (s. 1907) akribisch stenographisch protokolliert

 

4.2. Versuche und Ergebnisse

 

Hier einige Aufgaben mit den anschließenden, protokollierten rückschauenden (retrospektiven) Selbstbeobachtungen:

    Reizwort: „Tiger“ – Aufgabe: „Überordnung“ – Lösung durch die Vp.: „Raubtier“ – durch den Vl. protokollierte Selbstbeobachtung der Vp.: „Ich hatte die Aufgabe gelesen, es kam sofort assoziativ Raubtier (akustisch) dazu. Erst nachdem das Wort gekommen war, wurde mir klar, dass es eine Lösung der Aufgabe ist. Vorstellungen waren sicher nicht da“ (n. Selz 1913: 27).

    Reizwort: „Tod“ – Aufgabe: „Nebenordnung“ – Lösung durch die Vp.: „Leben“ – Selbstbeobachtung der Vp: „Ich las Tod mit akustisch motorischer Begleitung, verstand den Sinn, las ebenso Nebenordnung, ohne den Sinn [dieser Aufgabenstellung] zu verstehen. Währenddessen verharrte die abstrakte Vorstellung von Tod[14]

    Dann las ich wieder Nebenordnung, verstand den Sinn und nun trat optisch und akustisch „Leben“ auf. Bewusstsein der Richtigkeit vor dem Aussprechen“ (Selz 27).

    Eine zweite Versuchsperson gab nach demselben Versuch mit derselben Aufgabenstellung („Nebenordnung“) und Reizwort („Tod“) zu Protokoll  (Selbstbeobachtung der Vp.): „Verstand den Sinn der Aufgabe, besann mich. Als mir nicht sofort etwas einfiel, wiederholte ich Tod noch einmal (akustisch – motorisch). Darauf stellte sich sofort (leise akustisch und schwach optisch) das Wort Leben ein; im übrigen sicher keine Anschauungen“ (Selz 27, 28).

In vielen Protokollen finden sich nach Selz zahlreiche Fälle, in denen die Lösung aufgrund der Aktualisierung eines schon vorhandenen, aufgabengemäßen Wissens zustande kam. Hier ein Beispiel:

    Reizwort: „Pfarrer“ – Aufgabe: „Nebenordnung“ – Lösung durch die Vp.: „Kaplan“ – protokollierte retrospektive Selbstbeobachtung der Vp: „Ich las hintereinander mit Verständnis. Sogleich das Bewusstsein, dass mir etwas Nebengeordnetes sehr geläufig wäre. Dann kam das Wort Kaplan, innerlich gesprochen. Es ist sicher, dass das Bewusstsein der Bekanntheit einer Lösung dem sonst unvermittelten Auftauchen des Wortes Kaplan vorausging“ (Selz 32).

Hier noch ein Beispiel für das Gesetz des Zurücktretens der Wissensaktualisierung im Bewusstsein bei wachsender Geläufigkeit des Wissens. Nach Selz sind auch unvermittelt erscheinende Lösungen ohne nachweisbare Wissensaktualisierung eine Form der Aufgabenlösung durch eine spontane Form der Wissensaktualisierung:

    Reizwort: „Jagd“ – Aufgabe: „Nebenordnung“ – Lösung: „Fischerei“ – Selbstbeobachtungsprotokoll der Vp.:„Zunächst frappierte mich, dass die Aufgabe oben stand. Ich sah sehr bald, welches die Aufgabe war, dachte zuerst, ich würde nichts finden, dann dachte ich, es gibt doch bei diesen Begriffen Parallelbegriffe [im Original mit Sperrschrift]; ich meinte derartige Gegenüberstellungen wie Landwirtschaft und Viehzucht, ohne dass ich an derartige Beispiele gedacht hätte. Dann ist mir plötzlich der Begriff Fischerei eingefallen, und ich habe das gesagt. Es kam ganz plötzlich ohne jede Vermittlung“ (Selz 50)

Das Entstehen eines einheitlichen Zielbewusstseins macht Selz dabei davon abhängig, dass das Bewusstsein von der Aufgabe im engeren Sinne und das Bewusstsein von dem, durch das Reizwort bezeichneten Gegenstand zum Bewusstsein von der Gesamtaufgabe vereinigt wird. Dieser kombinatorische Prozess einer Vereinigung des Aufgaben- und des Gegenstandsbewusstseins (des durch das Reizwort bezeichneten Gegenstandes) zum Bewusstsein der Gesamtaufgabe konnte Selz ebenfalls in verschiedenen Versuchen nachweisen. Hier ein Beispiel:

    Reizwort: „Gedicht“ – Aufgabe: „Überordnung“ – Lösung: „Kunstwerk“ – Selbstbeobachtungsprotokoll der Vp.:Zunächst wieder ein volles Verständnis für die volle Aufgabe [im Original mit Sperrschrift]. Dann wieder den intensiven Blick, die symbolische Fixation desjenigen, was man sucht; dann tauchte zunächst auf die flüchtige Erinnerung an Kunst, Poesie oder so etwas. Das Wort Kunst glaube ich, akustisch-motorisch. Dann der Gedanke, dass ich Gedicht nicht unter Kunst subsumieren kann, sondern nur unter eine Leistung der Kunst. Dabei, wie ich sicher weiß, keine Worte und Vorstellungen; dann sage ich Kunstwerk“ (Selz 198)   

Diese Beispiele stellen nur eine kleine, vorläufige Auswahl der in diesem Band (1913) dargestellten Versuche zum geordneten Denkverlauf dar und sollen hier nur einen Einblick von Selzens Arbeitsweise bieten.

Diese Erlebnisse der 9 Versuchspersonen stellen die Grundlage des 300 Seiten langen Werkes „Über die Gesetze des geordneten Denkverlaufs“ (1913) dar und sind auch integrierender Bestandteil des 700 Seiten langen, 1922 in Bonn beim Bouvier Verlag erschienen zweiten Teils mit dem Titel: „Zur Psychologie des produktiven Denkens und des Irrtums“.

Zusammenfassend stellte er seine empirische Vorgehensweise in seinem 1942 fertiggestellten und 1991 erstmals veröffentlichten Manuskript für den pädagogisch-psychologischen Lehrkurs für das Kursuswerk der für das Unterrichtswesen zuständigen Stelle des Judenrates in Amsterdam dar.

In diesem Manuskript begründet er die von der Würzburger Schule aus methodologischen Gründen durchgeführten Trennung von Versuchsleiter und Versuchsperson, um eine Beeinflussung der Selbstbeobachtung durch theoretische Vermutungen zu verhindern. Zudem soll die Versuchsperson den genauen Versuchszweck nicht kennen, sondern im unwissentlichen Verfahren beobachten. Außerdem begründet er noch mal das Verfahren der rückschauenden Selbstbeobachtung im unmittelbaren Anschluss nach Beendigung des Versuches, damit der Denkablauf während der Aufgabenlösung nicht durch die gleichzeitige Selbstbeobachtung, wie oben bereits erwähnt, gestört werde.

Nach Selz zähle die Denkpsychologie zwar zu der Bewusstseinspsychologie oder Erlebnispsychologie, sich hier auf Karl Bühlers „Krise der Psychologie“ (1927) beziehend, aber dieses charakterisiere zwar mehr die Methode als das Ergebnis der Denkpsychologie.

Seinen Ergebnissen zufolge habe die Methode der unmittelbar rückschauenden Selbstbeobachtung insofern einen entdeckenden Charakter, weil sie den feineren Aufbau des seelischen Geschehens, z.B. beim geistigen Schaffen aufdecken würde, der uns zunächst noch unbekannt, d.h. „unbewusst“ wäre. Sie erhelle also diejenigen seelischen Vorgänge, die ohne dieser psychologischen Methodik „unbewusst“ verblieben wären (vergl. Selz 1942/91).

In diesen Ausführungen verbindet er seine Methode der unmittelbar rückschauenden Selbstbeobachtung mit der Methode der Psychoanalyse, wobei sich die Denkpsychologie im Unterschied zur Psychoanalyse auf normale Erscheinungen des Seelenlebens bezieht.

Insofern hatte hier die von Selz verfeinerte und systematisch auf Denkvorgänge angewandte Würzburger Methode derIntrospektion einen entdeckenden Charakter, weil sie hinter bewussten Denkhandlungen eine des Versuchsleiter und Versuchsperson zunächst verborgene Schichten insbesondere beim schöpferisch tätigen Menschen (s.a. Selz 1931/1991) finden. In der Tradition der Würzburger Denkpsychologie ist dieser Aspekt allerdings nicht neu, siehe Bühlers „Aha-Erlebnis“. Selz behält also die Entdeckung Bühlers bei, variiert allerdings ihre Möglichkeiten.

 

4.3. Otto Selzens methodologischer Rückschritt gegenüber Karl Bühler

 

Selzens experimentelles Setting stellt in einem gewissen Sinne einen methodologisch-methodischen Rückschritt gegenüber der Bühlerschen Methode (verg. Bühler 1907) dar. Hatte Karl Bühler, wie auch Kleining (1999) feststellt, die Methodologie insgesamt souveräner gehandhabt als die anderen Mitglieder des damaligen Würzburger Institutes, so konnte sich Selz letztendlich nicht von den damals gültigen methodischen Vorgaben und Normen an experimentelle Untersuchungen lösen, wie sein Setting deutlich zeigt (vergl. Selz 1913).

Karl Bühler hatte im Gegensatz zu Selz sein Versuchsarrangement möglichst alltagsnah gestaltet. Die Versuchsperson saß an einem Tisch, der Versuchsleiter in der Nähe. Die Fragen wurden anders als bei Selz (s.o.) lediglich von dem Versuchsleiter vorgelesen und die Zeit zwischen Frage und Antwort wurden allerdings ähnlich wie bei Selz (1913) mit einer Fünftelsekundenuhr gemessen. Durch die Alltagsnähe des Versuchssettings Bühlers gewinnt dessen Verfahren eine zusätzliche Offenheit dem Gegenstand Erleben beim Denken gegenüber, wobei die Versuchspersonen nicht mehr durch ein elaboriertes experimentelles Setting eventuell in ihren Denkleistungen behindert werden. Das „Recht des Gegenstandes“ (Bühler, 167) soll zur „vollen Geltung“ kommen, indem der Versuchsleiter nichts von sich aus entscheiden soll. Die Fragen des Vl. „.. müssen stumm sein und sich in neuen Versuchen verbergen“. „Die Entscheidung kann ihm nur die Vp und zwar spontan entgegenbringen“ (167). „Die Anpassung..“ an das Versuchssetting und an die Fragestellung wird nach Bühler „... nicht von dem Beobachter, der Vp., sondern von dem Versuchsleiter verlangt“ (Bühler, 166). Selz (1913) hingegen passt sich an den damaligen Standards experimenteller Versuche an. Möglicherweise, das müsste experimentell über Nachversuche nach dem Muster der Selzschen Experimente zu erforschen sein, fanden in den Selzschen Versuchen auch in den Versuchspersonen unbewusste Anpassungs- und Selektionsvorgänge nach „richtigen“, den experimentellen Fragestellungen „angemessenen“ Antworten statt. Zumindest lässt sich bei erster Durchsicht der Protokolle von Selz (1913) keinerlei Anhaltspunkte für geäußerte Emotionen feststellen.    

Selz (1913) bezeichnet seine Introspektionsmethode als ‚systematische experimentelle Selbstbeobachtung’[15], also mit einem ursprünglich von Narziß Ach (1905) geprägten  Begriff. Kritisch lässt sich in diesem Zusammenhang hierzu anmerken, dass Selz den Begriff für eine von Ach entwickelte, sehr restriktive, die Aussagen seiner Versuchspersonen streng auf Objektivität und Vollständigkeit kontrollierende Introspektionsmethode übernommen hatte, wobei er diese restriktive Methode der Selbstbeobachtung Achs in seiner Kontroverse mit Achs (vergl. Selz 1910, 1913) über dessen Festhalten an dem Assozianismus nicht weiter in Frage stellte.

 

       5. Die Bedeutung von Otto Selzens Denktheorie

 

Seine Gedanken und seine Theorie zum geordneten Denkverlauf fand nach Beate Koobs Darstellung (1981), allerdings ohne Quellenangaben, zu seiner Zeit erst allmählich Resonanz. Zeitgenossen wie Bühler, und Metzger kritisierten, so Koob, seine streng mechanistische Auffassung zur Determination der psychischen Reaktionen, die Emotionen nicht berücksichtigt, die unklare Begriffabgrenzung. Bei Karl Bühler ist zumindest zusammenfassend in dessen „Krise der Psychologie“ (1927/78), in der er Selz Leistungen zur Weiterentwicklung der Denkpsychologie besonders hervorhebt, wenig von dieser Kritik an Selz wegen dessen angeblichen mechanistischen Auffassung zu spüren.

Nach Beate Koob wurde erst später erkannt, dass Selzens Konzepte und Annahmen in der Denkpsychologie, u.a. die Annahme der Komplexergänzung, das vorweggenommen hatten, was später Koffka,Duncker und Wertheimer in den Gestaltgesetzten dargelegt hatten. Selz soll selbst beklagt haben, dass er in diesen Arbeiten nicht zitiert worden war.

Wertheimer hatte sich beispielsweise in seinem „ProductiveThinking“ (1945) zwar nicht ausdrücklich auf Selzens Forschungen bezogen, sieht allerdings Parallelen zwischen seinem Ansatz und dem der Würzburger Denkpsychologie um Külpe, Ach, Bühler, Selz und anderen, wobei Wertheimer besonders deren Betonung der Funktion der Aufgabe auf die Struktur der nachfolgenden Denkvorgänge und unanschaulichen Vorstellungen hervorhebt (Wertheimer 1945: Introduction).     

Das Konzept des „Schemas“ (in der schematischen Antizipation des Ziels) wird nach Koob in den gegenwärtigen Kognitionstheorien zum Lernen und Erinnern von Texten wieder aktuell und von Forschern wieder aufgegriffen, u.a. von de Groot an der Universität Amsterdam bei protokollierten und analysierten Lösungsstrategien von Schachspielern. Bei diesen Untersuchungen sieht er die Annahmen von Selz bestätigt, dass das Subjekt die Auffindung, Auswahl und Abfolge adäquater Denkoperationen bis zur konkreten Problemlösung auf den Hintergrund eines schematisch antizipierten Zielbewusstseins steuert[16].

Ebenso hatten Selzens Konzepte nach Koop Einflüsse in der, mit der Computerentwicklung zusammenhängenden „ArtificialIntelligence“.

Newell & und Simon (1972)[17] weisen auf den Einfluss von Selz` mechanistischer Theorie zur Determination von Denkoperationen hin, die Einfluss auf ihre Arbeit hatte.

Sie konnten, von Selz ausgehend, eine Heuristik zum Lösen eines Problems aufstellen und die Lösungsstrategien erfolgreich mit dem Computer simulieren.

Aus der Denktheorie leitete Selz seinen Intelligenzbegriff ab, der auch Einfluss auf die Pädagogik, primär allerdings in seinem Emigrationsland der Niederlande hatte.

Ein Individuum operiert intelligent, wenn es zur Lösung der ihm in der Umwelt immer wieder neu gegebenen Probleme reproduktiv Wissen und Mittel abstrahiert und produktiv auf das jeweilige neue Problem überträgt. Diese Operationen sind nach Selz – innerhalb gewisser Grenzen des Individuums – lernbar[18].

Lernen bedeutet nach Selz nicht das reine Ansammeln von Wissen, sondern die allgemeine Operation die Sinnerfassung, die Komplexergänzung, die Abstraktion und Kombination so zu beherrschen und automatisieren, dass neu auftauchende Probleme auf dieser Grundlage eingeübter Denk- und Problemlösungsstrategien vom Individuum gelöst werden können.

In der Kognitiven Erziehung hat nach Selz der Lehrer die Aufgabe, für schwächer Begabte, die solche intelligente Operationen zur Problemlösung nicht erkennen und nicht anwenden können, diese Lösungsstrategien so hervorzuheben und ihnen nahe zu bringen, dass sie später solche allgemeinen Problemlösestrategien selbst anwenden können.

Nach Beate Koobs Darstellung beeindruckte dieser an für sich kreative Intelligenzbegriff Selzens und seine Gedanken zur Hebung des Intelligenzniveaus den an der Uni Amsterdam lehrenden Pädagogen Kohnstamm. Und Kohnstamm ist es schließlich zu verdanken, dass einige seiner Schüler, u.a. Prins diese Gedanken aufgenommen hatten. Nach Prins besteht Lernen darin, richtig das Problem zu lösen, studieren zu lernen. Nach Koob fällt hier der Bezug zu dem später entstandenen Begriff „Metakognition“ auf    

 

5.1. Otto Selzens Bedeutung für die dialogisch heuristische Introspektion

 

Insofern kann man Selzens Methode von unserem Standpunkt aus als heuristisch, also als entdeckend bezeichnen, weil er mit seiner Methode der Introspektion die durch die Würzburger Schule insbesondere durch Bühler entdeckten Zusammenhänge zu einer Psychologie des Denkens durch systematische Variation weiter entwickelt und zu einer sehr komplexen, die spätere kognitive Psychologie nachhaltig beeinflussende Denkpsychologie ausgebaut hatte. Auf der anderen Seite stellte sein methodisches Vorgehen, wie oben beschrieben, gegenüber dem Bühlerschen Verfahren einen methodologischen Rückschritt dar. Mit einiger Vorsicht kann man behaupten, dass Selz die Vorstellung verfolgte, durch ein strikt kontrolliertes experimentelles Setting, welches alle störenden Randbedingungen ausschalten sollte, das u.a. von Narziß Ach (s. 1905) begründete methodische Ideal der Objektivität in der Subjektivität der Selbstbeobachtungen aufrecht zu erhalten wenn auch weniger strikt als Ach. Bühler hingegen ließ sich vom Recht des Gegenstandes her leiten und strebte die Objektivität lediglich methodologisch über eine starke Variation von Versuchen, Vpn. und Aufgaben und der späteren Analyse der Daten auf Übereinstimmungen, Homologien, also auf Gemeinsamkeiten an. Allerdings unterscheiden sich Selz und Bühler in ihrer methodologischen Vorgehensweise in einem wesentlichen Punkt nicht. Beide kommen in ihren Experimenten zu qualitativen Aussagen über neue, bisher noch nicht bekannte Zusammenhänge.    

Bezüglich der Unterschiede zu dem Verfahren der dialogischen Introspektion der Hamburger Forschungswerkstatt lässt sich festhalten, dass Selzens Verfahren auf ein Einzelsetting unter der Separierung von Datenproduzent/Beobachter und Forscher beruht, während die Dialogische Introspektion der Hamburger Forschungswerkstatt methodologisch die Gruppe als Instrument zur Datengewinnung nutzt. Das geschieht nicht aus ökonomischen Motiven. Der systematische methodologische Vorteil des Gruppensettings wirkt sich auf die Qualität der gewonnenen Daten aus. Sie werden vielschichtiger, differenzierter und vollständiger gegenüber einem Einzelsetting von Versuchsleiter und Versuchsperson wie bei Bühler (1907) und bei Selz (1913).

Diese Vollständigkeit der Daten im Gruppenverfahren zeigen sich:

  • auf der individuellen Ebene: Man erkennt in den Berichten der anderen eigene Erlebnisanteile, die man nur flüchtig wahrgenommen und deswegen nicht notiert hatte, weil man sie zuerst nicht ernstnahm, verdrängte, ausblendete etc.
  • auf der kollektiven Ebene: Unterschiedliche Introspektionen werden zusammengetragen. Dadurch findet methodologisch-methodisch eine Variation der unterschiedlichen Introspektionen der Gruppenmitglieder zu einem Thema statt. Dadurch wird die Introspektion in der Gruppe insgesamt vielschichtiger und vollständiger als bei der individuellen Introspektion nach dem Bühlerschen oderSelzschen Muster.

Insofern würde man bei einer Wiederholung von einigen der Selzschen Versuchen mit dem Gruppenverfahren der Hamburger Forschungswerkstatt wahrscheinlich zu wesentlich vielschichtigeren Daten zu dem Erlebenshintergrund von Denkprozessen gelangen als es Selz mit seiner Methode konnte.

Es wäre auch anzunehmen, dass diese vielschichtigeren Daten durch diese Gruppenmethode diese Denkpsychologie Selzens durch die Einbeziehung auch sehr flüchtiger Erlebensanteile und von die kognitiven Prozesse begleitenden Emotionen bereichern und damit ausdifferenzieren würde.

  

       6. Literatur

 

Ach, Narziss (1905): Über die Willenstätigkeit und das Denken. Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht (Nachdruck in Ziche 1999, Text IV, S. 98 – 156).

Boring, Edwin G. (1953): A. History of Introspection. In:PsychologicalBullentin, Vol. 50, N0. 3, pp 169-189.

Bühler, Karl (1927/78): Die Krise der Psychologie. Frankfurt: Ullstein.

Bühler, Karl (1907): Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. In: Archiv für die gesamte Psychologie 9: 297 – 365 (Nachdruck in Ziche 1999, Text V, 157 – 212).

Burkart, Thomas (2001): The Role of the Researcher in Group-Based Dialogic Introspection. In: Kiegelmann, Mechthild (Ed.) The Role of the Researcher in Qualitative Psychology. Schwangau: Ingeborg Huber: 91-98.

Groffmann, Karl-Josef (1981): Vorwort. In: Groffmann, Karl-Josef (Hrsg.): Leben und Werk von Otto Selz – Zum 100. Geburtstag des Philosophen und Psychologen. Mannheim: Otto Selz Institut der Universität Mannheim.

Kleining, Gerhard (1999): Die Würzburger Methode der Introspektion und unsere Verbesserung. Unveröffentlichtes universitätsinternes Manuskript.

Köhler, Wolfgang (1958): Dynamische Zusammenhänge in der Psychologie. Bern: Hans Huber.

Köhler, Wolfgang (1933): Psychologische Probleme. Berlin.

Koob, Beate (1981): Otto Selz zum Gedenken – Sein Leben und Werk. In: Groffmann, Karl-Josef (Hrsg.): Leben und Werk von Otto Selz – Zum 100. Geburtstag des Philosophen und Psychologen. Mannheim: Otto Selz Institut der Universität Mannheim.

Külpe, Oswald (1912): Über die moderne Psychologie des Denkens. In: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik VI: S. 1069 – 1110 (Nachdruck in Ziche 1999, Text I, S. 44 – 67).

Marbe, Karl: (1901): Experimentell-psychologische Untersuchungen über das Urteil. Eine Einleitung über die Logik. Leipzig: Wilhelm Engelmann (Nachdruck in Ziche: Text III, S. 78 – 97).

Métraux, Alexandre & Herrmann, Theo (1991): Zur Biographie und Werksgeschichte von Otto Selz. In: Métraux, Alexandre & Herrmann, Theo (Hrsg.): Otto Selz: Wahrnehmungsaufbau und Denkprozess – ausgewählte Schriften: Bern, Stuttgart, Toronto: Hans Huber Verlag.

Selz, Otto (1942/1991): Die geistige Entwicklung und ihre erzieherische Beeinflussung. In: Métraux, Alexandre & Herrmann, Theo (Hrsg.): Otto Selz: Wahrnehmungsaufbau und Denkprozess – ausgewählte Schriften: Bern, Stuttgart, Toronto: Hans Huber Verlag, 71 – 136.

Selz; Otto (1935/1991): Über genetische Ganzheitsprobleme. In: Métraux, Alexandre & Herrmann, Theo (Hrsg.): Otto Selz: Wahrnehmungsaufbau und Denkprozess – ausgewählte Schriften: Bern, Stuttgart, Toronto: Hans Huber Verlag, 25 – 69.

Selz, Otto (1931/1991): Der schöpferische Mensch. In: Métraux, Alexandre & Herrmann, Theo (Hrsg.): Otto Selz: Wahrnehmungsaufbau und Denkprozess – ausgewählte Schriften: Bern, Stuttgart, Toronto: Hans Huber Verlag, 159 - 172 (Erstdruck 1931 in: Zeitschrift für pädagogische Psychologie 32, 229 – 241)

Selz, Otto: (1924/1981): Die Gesetze der produktiven und reproduktiven Geistestätigkeit – Kurzgefasste Darstellung. Bonn: Bouvier Verlag (Nachdruck 1981 in: Groffmann, Karl-Josef (Hrsg.): Leben und Werk von Otto Selz – Zum 100. Geburtstag des Philosophen und Psychologen. Mannheim: Otto Selz Institut der Universität Mannheim).

Selz, Otto (1913): Über die Gesetze des geordneten Denkverlaufes. Eine experimentelle Untersuchung. Stuttgart: Spaemann.

Selz, Otto (1910): Die experimentelle Untersuchung des Willensaktes. Zeitschrift für Psychologie 57/1910: 241 – 270.

Seebohm, Hans-Bernhard (1970): Otto Selz – Ein Beitrag zur Geschichte der Psychologie. (Heidelberger Phil. Diss.).

Watson, John B. (1913/1968): Psychologie, wie sie ein Behaviorist sieht. In: Graumann, C.F. (Hrsg.) Behaviorismus. Berlin: Kiepenheuer und Witsch. (Erstdruck 1913: Psychology as the  Behavorist Views it. In: Psychological Review).

Wertheimer, Max (1945): Productive Thinking. New York: Harper

Wertheimer, Max (1923): Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt II. In: Psychologische Forschung 4/23: 301 – 150.

Wundt, Wilhelm (1911): Einführung in die Psychologie. Bd. I. Leipzig. R. Voigtländers

 

 

 

 

 


[1] Graumann, Carl-Friedrich (Hrsg. 1964): Denken. Köln

[2] verg. Seebohm 1970, 10 f.

[3] s. insbes. Selz 1942/1991, 83-84.

[4]Nach Seebohm hat die Denkoperation der Überordnung die Tendenz, eine generalisierte Abstraktion hervorzurufen. Die der Nebenordnung wird gern über dem Umweg Überordnung gelöst, weil das Allgemeine leichter zu lösen ist als das Spezielle. Das Ganze lässt die Denkoperation der Komplexergänzung hervortreten. Die Aufgabe Teil erzeugt anhand der von Seebohm analysierten VersuchsprotokolleSelzens oft eine Wahrnehmungsvorstellung mit anschließender Blickwanderung. Die Aufgabe Definition wurde von den Versuchspersonen als besonders schwierig empfunden und oft durch lange Reaktionszeiten gekennzeichnet und  führt nach Seebohm besonders tief in das Walten der Denkgesetze hinein. Bei dieser Klasse von Aufgaben zeigt sich auch die enge Beziehung von Denken und Sprache. Der Gedanke geht der Sprache voraus. Die Manifestation des Gedankens ist jedoch an die Möglichkeiten, die die Sprache bietet (Grammatik), gebunden ( Seebohm 1970, 95).

[5] Allerdings sind auch bei Ach (1905) bereits Spuren eines Handlungsbegriffes erkennbar, wenn auch als „Reaktionsbewegung“ (Ach, 133) einer Versuchsperson auf einem ihm gegebenen Reiz, verbunden mit der Bewusstheit der Vp., dass auf diesem Reiz eine Reaktionsbewegung zu erfolgen hat.

[6] Zu dem Begriff schematische Antizipation: nach Selz (1924) verhalten sich,“...Ausgangs und Enderlebnis, Zielbewusstsein und Lösungsbewusstsein beim Besinnen [als Unterfall einer intellektuellen Operation der Komplexergänzung, s.u.] nicht wie heterogene Vorstellungen [gänzlich verschiedenartige, nur assoziativ verknüpfte Vorstellungen wie bei der Assoziationspsychologie], sondern als das Schema oder unausgefülltes Blankett eines zu reproduzierenden Komplexes zu dem vollständig aktualisierten Komplex..... Der zu reproduzierende Komplex ist also durch seine schematische Antizipation [schematische gedankliche Vorwegnahme] im Zielbewusstsein selbst hinreichend bestimmt, um der Operation der Komplexergänzung die ausschließliche Richtung auf zielgemäße Komplexe vorzuschreiben. Hieraus ergibt sich die richtungsgebende Bedeutung der schematischen Antizipation“ (42).

[7]Eine Komplexergänzung wäre beispielsweise, wenn eine Versuchsperson aufgefordert wird, zu dem Begriff „Jagd“ einen gleichgeordneten Begriff zu finden. Die Versuchsperson besaß aus ihrer wissenschaftlichen Beschäftigung  „...den gegenwärtig nicht in hoher Reaktionsbereitschaft befindlichen Wissenskomplex, dass Jagd und Fischerei als Gewerbe der Naturvölker Parallelbegriffe sind“ (Selz 1924, 40). Diese Komplexergänzung ist ein Vorgang einer intellektuellen Operation, die Selz als die des Besinnens bezeichnet. „Ein Begriff A (Jagd) steht zu einem unbekannten, aufzufindenden Begriff in der Beziehung Y (Nebenordnung). Das Aufgabenbewusstsein verhält sich also zu dem zu aktualisierenden Wissenskomplex wie das Schema eines Komplexes zu dem vollständigen Komplex, und der Vorgang des Besinnens, welcher den Wissenskomplex wieder ins Bewusstsein hebt, stellt sich als Unterfall einer intellektuellen Operation der Komplexergänzung dar“ (41)  

[8]„Die intellektuellen Grundoperationen wie z.B. Komplexergänzung, Abstraktion oder Kombination können durch die Unterschiede der Antizipation eine mannigfaltige Spezialisierung erfahren, so dass wir ein dem System unserer Bewegungen nicht nachstehendes System einfacher und zusammengesetzter intellektueller Operationen erhalten. Diese sind genau wie die verschiedenen  unser äußeres Handeln ermöglichende Bewegungskoordinationen bestimmten auslösenden Reizen in streng fixierter Reihenfolge der Teiloperationen konstant zugeordnet, so dass in unserem intellektuellen Geschehen eine nicht minder straffe Ordnung herrscht wie in unseren Bewegungen“ (Selz 1924, 43) 

[9]vergl. W. Köhler (1933).

[10] „Wie in der Physik ein Molekül als funktionelle Einheit dynamisch entsteht, so scheinen sich im Anschauungsfeld bestimmte Bereiche nach Gesetzen sensorischer Dynamik auszusondern“ (Köhler 1933, 112).

[11] Wertheimers Auffassung nach folgen „...Einrichtungen, Verhaltensweisen gesetzlich allgemeiner Art [........] in ihrer Gesetzlichkeit biologisch regulären Bedingungen sehr adäquat, unter untypischen Umständen „mangelhaft“? Die Natur scheint ganz und gar nicht in beliebig summierten Einzelanpassungen zu fungieren, sondern im Entstehen in sich gesetzlicher biologisch typisch adäquater Gebilde und Funktionsweisen“ (Wertheimer 336).     

[12] n. Selz 1913: 24; s. a. Seebohm 247.

[13] Bei der Aufgabenstellung (a) „Ganzes“ hatte die Vp. ein Ganzes zu dem durch das Reizwort bestimmten Gegenstand zu suchen; bei (b) der Aufgabe „Teil“ soll ein Teil des durch das Reizwort bezeichneten Gegenstandes gesucht werden; bei (c) „Überordnung“ hat die Vp. einen Gegenstand zu suchen, dessen Begriff dem Begriff des durch das Reizwort bezeichnetem Gegenstand übergeordnet ist; bei (d) „Nebenordnung“ soll ein Gegenstand gefunden werden, dessen Begriff dem Begriff des durch das Reizwort bezeichneten Gegenstandes gleichgeordnet ist, bei (e) der Aufgabe „Beschreibung“ soll die Vp. bestrebt sein, eine dem Reizwort entsprechende Vorstellung zu bilden. Die Vp. soll so weit gehen, dass es möglich sein würde, an das Vorgestellte eine Beschreibung zu knüpfen (n. Selz 1913: 12).   

[14] Nach einer Anmerkung von Selz hierzu versteht diese Vp. hierunter ein nicht durch anschauliche Elemente repräsentiertes Bewusstsein von einem Gegenstand (Selz, Anm 2, S. 27).

[15] “systematische Heranziehung der experimentellen Selbstbeobachtung“ (Selz 1913: 3).

[16]de Groot, A.D. (1966): Perception and memory thought: some old ideas and recent findings. In Kleinmuntz, B. (Hrsg.): Problem solving. Research, method, theory. New York: Wiley.

 

[17] Newell, A. & Simon, H.A. (1972): Human problem solving. Englewood Cliffs: Prentice-Hall.

[18]Vergl. Selz, Otto (1935): Versuche zur Hebung des Intelligenzniveaus. Ein Beitrag zur Theorie der Intelligenz und ihrer erzieherischen Beeinflussung. In: Zeitschrift für Psychologie 134, 236 – 302.

 

 

 

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