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Protoypische historische experimentelle Anordnungen

Harald Witt

Es sollen zwei experimentelle Anordnungen beschrieben werden, wie sie um die Jahrhundertwende zur Untersuchung innerer Vorgänge benutzt wurden. Zum einen werden die Experimente von Wundt (Leipzig, um 1907) zur Untersuchung von Empfindungen dargestellt, zum anderen Bühlers Denkexperimente (Würzburg, um 1907). Weitere methodische Varianten (lautes Denken, freie Assoziationen, automatisches Schreiben) werden nur skizziert.

1. Wilhelm Wundt

Wundt (1832 - 1920) und seine Schüler führten in dem berühmten Leipziger Laboratorium eine Vielzahl von Experimenten durch, die am Vorgehen der Naturwissenschaft orientiert waren. Insbesondere die Orientierung an der Chemie findet sich in seinem auf Elemente des Bewußtseins ausgerichteten Vorgehen. Um kontrollierbare Expositions- und Antwortbedingungen zu haben, wurden Instrumente wie optische Verschlüsse oder elektrisch gesteuerte Zeitmessungen eingesetzt. Als ein Prototyp dieser Experimente wird hier eine Anordnung von Scripture (1907, S. 51 ff) dargestellt, weil sie ausnahmsweise auch eine Beschreibung der äußeren Bedingungen enthält. Es kamen hier optische, akustische und taktile Reize zum Einsatz, die in der Regel 4 Sekunden exponiert wurden. Die Exposition wurde jeweils 2 Sekunden vorher durch das Wort "Jetzt" angekündigt. Während der Expositionszeit sollte die Vp alle assoziierten Vorstellungen mitteilen. Die Vp saß während der Versuche in einem mit Tüchern abgedunkelten Kasten. Begriffe wurden als geschriebene Worte, gesprochene Worte oder als Bilder präsentiert, Gegenstände mußten im Dunklen ertastet werden. Es ging in diesen Assoziationsversuchen um die Frage: Wie ist der assoziative Verlauf von Vorstellungen?

Beispiel 1

Reiz: gesprochenes Wort: Palme

Assoziation: “Erinnert an eine Landschaft in den Tropen, stammt von einem Bild”

Beispiel 2

Reiz: Tasteindruck von einer Haarnadel

Assoziation: “Zuerst kam der Tasteindruck; zu diesem gesellten sich dann die Tast- und Gesichtsvorstellungen eines gekrümmten Drahtes. Die Gesichtsvorstellung wurde immer stärker, und die Tastvorstellung verschwand sehr rasch. Endlich war die Vorstellung des Drahtes zu einer Haarnadel geworden.”

Ergebnis der Versuche waren Aussagen über den Inhalt und Verlauf von Vorstellungen, über den Zusammenhang von Reiz und Empfindung (Psychophysik) und die Unterscheidung von gebundenen Vorstellungen (Wahrnehmungen, Anschauungen und Perzeptionen) und freien bzw. selbständigen Vorstellungen. Wundt wollte die beiden für ihn zentralen Probleme klären: „Welches sind die Elemente des Bewußtseins? Und: Welche Verbindungen gehen diese Elemente ein, und welche Verbindungsgesetze lassen sich hierbei feststellen?“(Wundt 1918, S 28).

2. Karl Bühler

Ganz anders geartet waren die Untersuchungen von Karl Bühler (1879 - 1963), der im Psychologischen Institut in Würzburg im Rahmen seiner Habilitation Experimente über das Denken machte. Versuchspersonen waren häufig der Institutsleiter Külpe und andere Kollegen. Es ging um die Frage: Was erleben wir, wenn wir denken? Gegenstand waren komplexe Bewußtseinsinhalte.

Die prägnanteste Beschreibung von Bühlers Experimenten findet sich bei Wundt:„Der Experimentator liest der Versuchsperson jedesmal einen mehr oder minder schwierigen Satz aus einem möglichst nach dem Geschmack und der Gedankenrichtung dieser Person ausgewählten Schriftsteller vor (z.B. Nietzsche, der Ebner-Eschenbach, Rückert). Die Versuchsperson hat dann mit Ja oder Nein zu antworten, wobei dieses Ja oder Nein je nach vorheriger Verabredung entweder bedeutet, daß sie den Gedanken des Satzes verstanden hat oder nicht verstanden hat, oder daß sie ihm zustimmt oder nicht zustimmt. Nach dem Versuch werden jedesmal die Erscheinungen protokolliert, die in der Selbstbeobachtung vorgekommen sind. Auch wird mit der Fünftelsekundenuhr die Zeit annähernd bestimmt, die zwischen Frage und Antwort verflossen ist" (Wundt, 1907, S. 304).

Die Vp saß am Tisch, der Vl in der Nähe. In der Regel waren es recht schwierige Fragen oder Aphorismen, die Zeit bis zur Antwort konnte recht lang sein (z.B. 45 Sek.), war aber auch bei schwierigen Fragen oft erstaunlich kurz.

Beispiel 1:

Frage: „Können wir mit unserem Denken das Wesen des Denkens erfassen?“

Antwort: „Ja (6 Sek.). - Die Frage berührte mich erst komisch; ich dachte, es sei eine Vexierfrage. Dann fiel mir plötzlich ein, was Hegel Kant vorgeworfen, und dann sagte ich mit Entschiedenheit: ja. Der Gedanke an Hegels Vorwurf war ziemlich reich, ich wußte momentan genau, auf was es dabei ankommt, gesprochen hab' ich nichts dabei, auch nichts vorgestellt, nur das Wort Hegel klang mir nachträglich an (akustisch-motorisch)" (Bühler 1907, S. 304f).

Beispiel 2:

Frage: “Können Sie die Geschwindigkeit eines frei fallenden Körpers berechnen?”

Antwort: “Ja (5 Sek.). - ...- “ Den Satz sofort verstanden. Habe gleich an die Formel gedacht und gewußt, daß ich sie nicht in extenso gegenwärtig habe (vorgestellt habe ich nichts dabei). Es war zugleich ein unbehaglicher Zustand. Dann kam eine Erinnerung an M...[Name] ganz komplex, dabei nur M. gesprochen. Dann das Bewußtsein: ich könnte sie mir gleich vergegenwärtigen, wenn ich mich darauf besänne. Einen Moment Schwanken, ob ich's tun solle, dann gleich ja” (Bühler 1907, S. 304f).

Ergebnis der Versuche waren Aussagen über die Bestandteile und die Struktur von Denkprozessen (Gedanken, Gedankentypen) und über die Konstitution dieser Bestandteile (Gedanken = Bestandstücke der Denkerlebnisse; Gedankentypen sind das Regelbewußtsein, das Beziehungsbewußtsein und die Intention) (Bühler 1907, S. 314 ff).

Wundt und Bühler kritisierten gegenseitig ihre jeweiligen Experimente aufs Schärfste.Wundt stellte der experimentellen Selbstbeobachtung die reine Selbstbeobachtung gegenüber (beiläufig, spontan und nicht provoziert) und hielt eine provozierte Selbstbeobachtung, die das Bearbeiten einer Aufgabe und das gleichzeitige Beobachten der inneren Vorgänge erforderte, für nicht möglich bzw. für fehleranfällig und nicht kontrollierbar (Wundt 1907).

Bühler auf der anderen Seite sah keine Möglichkeit, unter den Bedingungen der kontrollierten Laborexperimente von Wundt komplexe innere Prozesse zu untersuchen. Wundts Elementenpsychologie betrachtete er als grundsätzlich nicht weiterführend (Bühler 1908).

3. Varianten

In der Tradition der Würzburger Schule ist auch das sogenannte laute Denken (Duncker 1935) angesiedelt, das wie bei Bühlers Experimenten, die Denkprozesse zum Gegenstand hat. Die Vp spricht laut aus, was ihr beim Lösen einer Denkaufgabe durch den Kopf geht. Ziel ist es, Teile des kognitiven Prozesses (Gedanken, Wahrnehmungen, Gefühle, Empfindungen) bewußt zu machen.

Gegenstücke zu diesen Vorgehensweisen, die immer einen aktiven und bewußten Beobachtungsprozeß enthalten, sind die Methoden, die unbewußte Vorgänge erschließen sollen. Hier ist v.a. die Methode der freien Assoziation zu nennen, die um 1900 von Freud zur Deutung von Trauminhalten benutzt wurde (Freud 1948) und die im Rahmen der psychoanalytischen Therapie unter Anleitung des Analytikers zu den Inhalten des Unbewußten führen soll. Dem Patienten wird gesagt, „der Erfolg der Psychoanalyse hänge davon ab, daß er alles beachtet und mitteilt, was ihm durch den Sinn geht, und nicht etwa sich verleiten läßt, den einen Einfall zu unterdrücken, weil er ihm unwichtig oder nicht zum Thema gehörig, den anderen, weil er ihm unsinnig erscheint“ (Freud 1948, S. 105).

Eine weitere Methode in diesem Sinne ist die des automatischen Schreibens (écriture automatique), wie sie von den französichen Surrealisten verwendet wurde, um Texte zu produzieren, die frei sind von gesellschaftlichen Zwängen und der eigenen inneren Zensur (Bürger 1996, S 145 ff). Die Anleitung erfordert hier, sich "in den passivsten oder rezeptivsten Zustand" zu versetzen, schnell und ohne vorgefaßtes Thema zu schreiben und bei "Störungen", d.h. bei Einsetzen gedanklicher Kontrolle den Schreibprozeß abzubrechen, irgendeinen Buchstaben zu wählen, diesen zum Anfangsbuchstaben des folgenden Wortes zu machen und weiterzuschreiben (Steinwachs 1971, S. 38). Diese Methode wurde zugleich als eine literarische Technik und als Mittel der Befreiung des Menschen angesehen.

4. Literatur

Bühler, Karl (1907): Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. In: Archiv für die gesamte Psychologie, Band IX, S. 297 – 365. Leipzig: Engelmann

Bühler, Karl (1908): Antwort auf die von W. Wundt erhobenen Einwände gegen die Methode der Selbstbeobachtung an experimentell erzeugten Erlebnissen. In: Archiv für die gesamte Psychologie, Band XII, S. 93 - 123

Bürger, Peter. (1996):. Der französische Surrealismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp

Duncker, Karl (1974): Zur Psychologie des produktiven Denkens. Berlin: Springer

Freud, Sigmund. (1942): Die Traumdeutung. Ges. Werke II/III. London: Imago

Scripture, E. W. (1907): Ueber den associativen Verlauf der Vorstellungen. In: Philosophische Studien VII., S. 50 – 76. Leipzig: Engelmann

Steinwachs, Giesela (1971): Mythologie des Surrealismus oder Die Rückverwandlung von Kultur in Natur. Neuwied: Luchterhand

Wundt, Wilhelm (1907): Über Ausfrageexperimente und über die Methoden zur Psychologie des Denkens. In: Psychologische Studien, Band III, S. 301-360. Leipzig: Engelmann

 

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