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Was ist eine Tafel?
Der Prozess der Dialogischen Introspektion

Gerhard Kleining


Während eines Workshops der Abteilung Erziehungspsychologie der Universität Tübingen in Blaubeuren 2001 demonstrierte ein Experiment die Vorgehensweise bei der Methode der Dialogischen Introspektion.

An der Introspektion beteiligten sich 15 WissenschaftlerInnen aus 4 Nationen mit den Muttersprachen englisch, spanisch, finnisch, deutsch. Konferenzsprache war Englisch. Die TeilnehmerInnen nahmen Platz an einem "runden Tisch", so dass sich gegenseitig sehen konnte. Der Versuchsleiter (G. K.) saß mit im Kreis.

Er informierte über die Vorgehensweise:

  • Die TeilnehmerInnen würden gebeten, auf ihre Gefühle, Gedanken und Erfahrungen zu achten, die ihnen in den Sinn kommen, wenn ein bestimmter Gegenstand genannt würde, ein bestimmter Begriff, der später mitgeteilt würde. Sie sollten in sich hineinhorchen und auf ihre Emotionen oder Gefühle achten, auf ihre Gedanken, Assoziationen und was immer sich in ihnen und mit ihnen ereigne als Reaktion auf die Nennung des Gegenstandes oder des Begriffs, der untersucht werden soll.
  • Sie könnten sich, wenn sie wollten, Notizen machen. Die Notizen blieben privat.
  • Nach einiger Zeit der Introspektion würden sie gebeten, über ihre Erfahrungen dabei zu berichten, dabei könnten sie auch ihre Notizen verwenden.
  • Jede teilnehmende Person sollte aufmerksam zuhören, was die anderen TeilnehmerInnen sagten und deren Mitteilungen zur Prüfung ihrer eigenen Introspektion nutzen, besonders für die Prüfung auf Vollständigkeit ihrer bisher mitgeteilten Introspektion.
  • Die wichtigste Regel für die Gruppe laute: keine Kommentare zu Berichten anderer abzugeben oder Bewertungen zu zeigen, weder positiv noch negativ.
  • Sodann werde es eine zweite Runde von Mitteilungen geben, wobei jede Person zusätzliche oder ergänzende Informationen abgeben könne, die ihr durch die Mitteilung der anderen wieder in den Sinn gekommen sind.
  • Alle Aussagen würden in Normalfall mit einem Tonbandgerät aufgenommen - im vorliegenden Fall geschah das aber nicht, da es sich um eine Information von Forschungspersonen über die Verfahrensweise handelte, nicht in erster Linie um die Erforschung eines Themas. (Der Versuchsleiter machte sich gleichwohl Notizen).
  • Die TeilnehmerInnen, für die eine solche Untersuchungen neu war, wurden um aktive Mitarbeit gebeten, der Erfolg hinge vollständig von ihnen selbst ab.

Die Funktion des Versuchsleiters war:

  • Über den Ablauf des Experiments zu informieren, eine freundliche und kommunikative Atmosphäre herzustellen und zu erhalten.
  • Das Thema, den Begriff oder den Gegenstand der Untersuchung zu nennen, zu dem Introspektion ausgeführt werden sollte.
  • Den teilnehmenden Personen zu sagen, dass sie jetzt mit der Introspektion beginnen sollten, und ihnen die nötige Zeit zu lassen, bis alle deren Abschluss zu erkennen gaben. Dann, möglichst von einem "Freiwilligen" ausgehend, jede teilnehmende Person in der Reihenfolge nach rechts oder links zu bitten, etwas über ihre Gedanken zu sagen oder, wenn im Einzelfall nicht gewünscht, dies ohne Kommentar zu akzeptieren und jeder Person für ihre Mitteilung zu danken.
  • Dann eine zweite Runde der Mitteilungen anzuregen und ausführen zu lassen.
  • Falls dies während der Mitteilungen nötig sei, sicher zu stellen, dass keine Kommentare über Aussagen anderer Personen geäußert wurden, weder zustimmend noch kritisch (war einmal nötig).
  • Jeden Bericht positiv und interessiert aufzunehmen, ebenfalls ohne vergleichende Bewertung.

Der Begriff/das Thema/der Gegenstand unserer Introspektion war "a blackboard" ("eine Tafel"). Der Leiter deutete dabei auf ein in der Nähe stehende Schultafel mit dem Hinweis, dass das Thema konkreter oder allgemeiner oder auch in anderer Weise verstanden werden könne.

Der Ablauf war, wie oben beschrieben. Die Phase des Schweigens bei individueller Introspektion dauerte ungefähr 5 Minuten bis alle von ihren Notizen aufsahen. Eine Person bot an, etwas zu sagen, die TeilnehmerInnen wurden dann im Uhrzeigersinn zumeist durch freundliche Gesten zur Mitteilung aufgefordert. Mit Ausnahme einer Person gaben alle Antworten. Die ersten Berichte waren ziemlich kurz und faktisch, aber die späteren wurden persönlicher und schlossen Geschichten ein. Es gab einmal spontane - nicht verbale - Zustimmung und Lachen, als eine Person von dem schrecklichen Gefühl berichtete, als die Kreide auf der Tafel quietschte. Alle hörten aufmerksam zu, es bestand allgemein Interesse an den Ausführungen der anderen. Die zweite Runde wurde von den meisten TeilnehmerInnen für zusätzliche Informationen zu ihren früheren Beiträgen genutzt. Die Untersuchung dauerte etwa 1 Stunde, die Datenaufnahme war damit abgeschlossen - bis auf eine Bemerkung über die ethnisch-anthropologische Dimension, die erst in der anschließenden Diskussion über die Verwendbarkeit der Methode nachgereicht wurde.

Obgleich die verbalen Aussagen nicht durch Tonbandaufnahme dokumentiert und zu einem Protokoll zur späteren Analyse verschriftet wurden, können auf Grund der Notizen doch einige Angaben über die Art der Daten gemacht werden, die auf diese Weise zustande kamen. Sie werden unter dem Vorbehalt mitgeteilt, dass eine vollständige Analyse weitere Daten und eine präzisere Dokumentation der Antworten verlangt, so dass die folgenden Gruppierung von Aussagen eher als Skizze denn als Bericht über die Ergebnisse anzusehen ist.

Die Introspektion erforscht das semantische Umfeld des Begriffs
Im einen oder anderen Zusammenhang wurden genannt:

  • Die physikalischen Bestandteile einer blackboard und ihre phänomenologische Erscheinung: hart, grün, als Schreibunterlage, groß.
  • Der Name "blackboard" im Gegensatz zu "whiteboard" oder "greenboard" - die Tafel, auf die gezeigt wurde, war grün. Es gab Hinweise auf die unterschiedliche Bedeutung des Wortes in Finnisch, Englisch und Deutsch.
  • Die persönliche Erfahrung mit einer besonderen Tafel, z. B. auf ihr zu schreiben, das negative Gefühl des Kratzens, Quietschens.
  • Der Rolle einer Tafel in der eigenen Biografie, als die Person Schüler/Schülerin war. Die Hierarchie des Lehrer/Lernender-Verhältnisses.
  • Die Rolle der Tafel, als der/die Befragte in der Schule/auf der Universität lehrte.
  • Die Funktion von Tafeln im allgemeinen in Schulen und in den Bildungsinstitutionen. Die Introspektion eröffnet dominante begriffliche Dimensionen.

Die Untersuchung erbrachte lebendige Kommentare und Geschichten zu verschiedenen Aspekten des Themas und des Bezugs auf die berichtende Person. Sie waren:

  • Faktisch (z. B. Beschreibungen des Materials),
  • persönlich (z. B. emotionale und kognitive Reaktionen über die Gegenwart und die oft weit zurückliegende Vergangenheit),
  • sozial (z. B. die Funktionen innerhalb eine Schulklasse),
  • institutionell (z. B. die Funktionen innerhalb von Schule und Erziehung generell),
  • kulturell (z. B. die Etymologie und die Bedeutung der Namen in verschiedenen Sprachen).

"Tafel" symbolisiert hierarchische (schulische) Kommunikation
Dargestellt (gezeigt, gedacht, erinnert) wurde ein einfaches Kommunikationsmodell mit den folgenden Kennzeichen:

  • Die Schrift vermittelt (geistige) Inhalte.
  • Drei Instanzen präsentieren sich in zeitlicher Abfolge: SchreiberIn => Medium (Kreide, Tafel) => LeserIn.
  • Die Abfolge entspricht der Reihe: Produzent der Nachricht => Transformation => Rezipient.
  • Die Nachricht ist zielgerichtet: Vom Schreiben auf die Tafel => zum Stehen auf der Tafel => zum Lesen von der Tafel.
  • Gleichzeitig bleiben die Vorstufen in den späteren enthalten: Der/die SchreiberIn manifestiert sich in der Schrift, SchreiberIn und Schrift bleiben beim Lesen gegenwärtig, das auf die früheren Phasen zurückweist.
  • Es existiert eine funktionale, auf Wissensgefälle beruhende Hierarchie: Von Lehrer/SchreiberIn => zu SchülerIn/LeserIn.
  • Unterscheidbar sind geglückte Kommunikation (Lesen) und gestörte Kommunikation (Quietschen).
  • Die SchreiberIn, die Produktion der Mitteilung und deren Inhalt kann, außer der sachlichen, emotionale Wirkung hervorrufen.

Die Ergebnisse können praktische Bedeutung haben
Wird die Untersuchung ergänzt und validiert, können die Ergebnisse für Forschung verwendet werden:

  • In der Pädagogik, z. B. durch die Reflexion über den Unterschied der funktionalen Hierarchie, die durch die Wissensdifferenz gegeben ist und einer sozialen Hierarchie, die Herrschaftsansprüche der Lehrer gegenüber Schülern legitimiert,
  • In der Schulpraxis des Lernens und der Erweiterung des Wortschatzes,
  • bei der Erforschung der Strukturen von sprachlicher Bedeutungsgeflechten.

Die Ergebnisse sind prinzipiell theoriefähig

  • Das Bewusstwerden des Begriffs kann empirisch studiert werden: Das Verhältnis von Wahrnehmen/Erleben/Erinnern einer Gegebenheit zur ihrer Benennung oder das von Konkretem und Abstraktem.
  • Die Herstellung von Begriffs-Umfeldern für einen spezifischen Begriff kann verglichen werden mit den Thesen der Assoziationpsychologie und dem Konstruktivismus'.
  • Die Reduktion der Vielgestaltigkeit auf einen "einfachen" Begriff oder Namen erinnert an Luhmann's "Reduktion von Komplexität" oder Max Webers Komplexitätstheorie, die der Wissenschaft nur bestimmte rational erforschbare Bereiche zuweist.
  • In der Sprachtheorie und Semantik u.a.
  • Das Verhältnis konkret/abstrakt bzw. abstrakt/konkret kann als Abfolge gefasst und empirisch studiert werden: Begriff => Entfaltung => Reduktion zum Begriff, aber jetzt viele Aspekte einschließend, als dialektische Figur oder umgekehrt konkret => abstrakt => konkret II als Entfaltung des scheinbar Konkreten der ersten Instanz nach dem Durchlauf durch den abstrakten Begriff.
  • Die Alltagspraxis der Herstellung von Kommunikation mit Hilfe von Schrift kann mit modernen Kommunikationstheorien vergleichen werden.

Kommentar zum methodischen Ablauf
Wir haben die Ausführung des Versuchs zwar genau geplant, konnten aber nicht abschätzen ob der Versuch erfolgreich verlaufen würde oder ob sich die TeilnehmerInnen überhaupt auf das Arrangement einlassen würden. Unsere Vorerfahrungen bezogen sich auf das Studium emotionaler Gehalte, wie Alltagsärger oder Nachrichten in Medien. Ein "Sachthema" ("Tafel") schien emotional unergiebig und/oder banal. Die Zweifler wurden eines Besseren belehrt - was zunächst als ein einfaches, bekanntes Wort oder Gegenstand der Alltagswelt erschien, erwies sich als ein Konzept mit vielen Facetten und Bezügen.

Ebenfalls haben wir mit Rückfragen oder Beteiligungsproblemen gerechnet. Die Aufgabe war für alle neu, die kulturellen Hintergründe der TeilnehmerInnen waren verschieden; sie kannten sich kaum und nur wenige hatten English als Muttersprache. Aber alle außer einer Person beteiligten sich im Sinne der Aufgabenstellung und produzierten sehr komplexe und relevante Daten. Dabei mag eine Rolle gespielt haben, dass die TeilnehmerInnen methodenbewusst und als Erziehungs-PsychologInnen fachkundig waren.

Die Dialogische Introspektion bewertend kann gesagt werden, dass die Untersuchung leicht ausgeführt werden konnte und eine Reihe verschiedener, aber zusammengehöriger Aspekte zum Thema hervorbrachte, die einer mehr differenzierenden Analyse zugänglich sind.

Weiterführende Überlegungen
Der Hinweis auf einen möglichen Ausschluss des Verfahrens durch kulturell-ethnische Normen - Inuit berichten nicht über ihr Seelenleben - wurde am Ende der Sitzung durch einen Anthropologen nachgetragen. Es ist damit zu rechnen, dass das Verfahren nicht in allen kulturellen Umwelten akzeptabel ist.

Ebenfalls weitere Forschungen hat der Hinweis auf etymologische Besonderheiten von "Tafel" im Deutschen und Finnischen ausgelöst: "Tafel" wird außer als "Schultafel" auch als "Speisetafel" und bei "Tafelmalerei" verwendet, ähnlich im Finnischen (taulu ist die Schultafel - liitutaulu - und bezeichnet auch die Malerei auf Holz). Welche semantischen Gemeinsamkeiten sprechen für die gleiche Verwendung des Begriffs? Sie scheinen im Kommunikationsmodell zu liegen: eine "Tafel" übermittelt immer einen Wert: die Schultafel (auch die Schiefertafel) die geistigen Gehalte, die Speisetafel die (wertvollen) Speisen, die Tafelmalerei die auf Holz gemalten Kunstwerke. Die Abfolge kann sozial unterschiedlich legitimiert werden: die Schultafel betont die Autorität der Lehrenden, die Essenstafel diejenigen, die bezahlen oder zum Genuss einladen und die Tafelmalerei die Auftraggeber. Dass Lehrer, Köche und Künstler eine davon unabhängige (funktionale) Autorität besitzen können, ändert nichts am Rechts- oder Machtverhältnis bei der jeweiligen Übertragung. Die Analyse verweist also auf das Studium der Herrschaftsverhältnisse. Sie sind prinzipiell offen - legitime Macht kann auf der Seite der Produzenten von geistigen Gehalten liegen oder auf der des Rezipienten oder auch flexibel gehandhabt werden (siehe die Geschichte der Bildungsvermittlung zeigt, etwa bei dem zur staatlichen Setzung umgekehrten Verhältnis der Schüler zu ihren Privatlehrern in der Feudalzeit).

Eine Abfolgeanalyse auf Grund der Wortbedeutungen kann wahrscheinlich machen: Funktionales Wissensgefälle bei der Wissenstransformation kann, aber muss nicht eine soziale Hierarchie legitimieren.

Die durch die Dialogische Introspektion gewonnenen Erkenntnisse geben Anlass, sie durch Forschungen in verschiedene Richtungen zu erweitern, wozu die heuristische Methodologie durch ihr "Dialogverfahren" direkt auffordert.

 

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